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An der Merzgrenze

An der Merzgrenze

Für den CDU-Vorsitz kandidieren drei Exponenten von Kapitalismus und Corona-Regime — einer der Bewerber „verdient“ besondere Beachtung.

Wer ist dein Herzblatt, CDU? Wer ist der Kandidat unser aller Herzen? Wem werden wir uns in einem Dreivierteljahr willig als unserem Kanzler unterwerfen? Der virtuelle CDU-Parteitag ist seit dem 15. Januar 2021 im Gange, nur die Verkündigung des Ergebnisses lässt noch auf sich warten. Deutschland fiebert.

Wir erleben in diesen Tagen ein Szenario, das an die altgriechische Sage vom „Urteil des Paris“ erinnert. Der trojanische Königssohn wurde von drei Göttinnen heimgesucht — Aphrodite, Hera und Athene —, die ihn baten, der schönsten unter ihnen einen Apfel zu überreichen. Die CDU steht vor einer ähnlichen Wahl. Dabei entspricht vermutlich Norbert Röttgen der Göttin der Schönheit — sein Kinngrübchen und sein grauer, perfekt gescheitelter Haaransatz erinnern viele nicht zu Unrecht an George Clooney.

Armin Laschet entspräche demgemäß Hera. Denn die Göttermutter steht für Macht und Herrschaft, und Laschet ist der einzige der Kombattanten, der über ein eigenes Reich herrscht, Nordrhein-Westfalen. Bleibt als drittes die Weisheit, verkörpert durch die Göttin Pallas Athene. Dem entspräche dann … nun ja, irgendwo haben solche mythologischen Vergleiche natürlich auch ihre Grenzen.

Ein stammelnder Siegertyp

Einer der drei Kandidaten wird mit größerer Wahrscheinlichkeit als Sieger aus dem politischen Schönheitswettbewerb hervorgehen: Friedrich Merz. Grund genug, sich diesen Mann etwas genauer anzuschauen. Da seine jüngste Parteitagsrede noch nicht bekannt ist, lohnt es, sich eine seiner älteren Reden zu Gemüte zu führen, jene vom 23. November 2019. Um zu wissen, wie ein Eintopf schmeckt, muss man ihn nicht vollständig verzehren. So hilft auch die Analyse eines beliebigen Ausschnitts aus dem rednerischen Œuvre von Friedrich Merz, um seine Wesensart zu erfassen.

Merz wirkte zu Beginn seiner Rede etwas unsicher — eine Seltenheit in einem politischen Umfeld, in dem selbstbewusstes Auftreten professionell kultiviert wird. Nachdem die Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer kurz zuvor die Rücktrittsdrohungs-Keule gezückt und damit Jubelorgien geerntet hatte, wirkte Merz kleinlaut. Er musste sich erst wieder ein bisschen fangen, was er durch betont energisches Hervorstoßen von Satzbruchstücken zu kompensieren suchte.

Friedrich Merz muss auch nicht gut sein, denn er ist der Kandidat der Finanzindustrie und der ihr gewogenen Medien.

Dem Presseliebling wird schon ein mit ein paar Witzchen gewürztes Gestammel als große Rede abgekauft. „Die SPD ist strukturell illoyal“, sagte er. „Wir sind loyal — zu unserer Vorsitzenden und zur Bundesregierung.“ Wenn der Möchtegern-Kanzlerkandidat mit einer Strategie nicht durchkommt — etwa mit harscher, jedoch inhaltsleerer Kritik —, schämt er sich nicht, es ein paar Wochen später mit der genau gegenteiligen Aussage zu versuchen — wohl wissend, dass die Karten ohnehin neu gemischt werden, wenn die Kanzlerfrage konkret ansteht.

Vereint im Militarismus

Wenn Kuscheln mit AKK seinen Machtambitionen nützt, kann Merz seine Vorsitzende auch urplötzlich umschleimen. Jedes zweite Wort von ihm ist dann „zusammen“. Man konnte auf jenem Parteitag beobachten, dass ein Großteil der rhetorischen Hervorbringungen von AKK, Merz und Markus Söder ohnehin nur auf diese beiden plumpen Aussagen hinauslief: „Wir halten zusammen“ und „Wir wollen weiter die stärkste Partei bleiben und den Kanzler stellen“. Solche Nichtigkeiten bekamen regelmäßig den größten Applaus unter den Delegierten.

Merz kokettiert im weiteren Verlauf der Rede mit seiner Idee der „Steuererklärung auf einem Bierdeckel“, die „immer noch populär“ sei. Seine Fans hätten sich gedacht: „Da bringt mal einer auf einen einfachen Nenner, was wir in einer komplexen Welt wollen.“ In Zeiten schwindenden Vertrauens in die Parteien, so Merz, bestünde vor allem ein Defizit auf dem Gebiet des Erklärens. Nicht etwa bezüglich der politischen Inhalte, könnten wir hinzufügen.

Dieses Deutungsmuster findet man allenthalben und nicht nur bei der CDU. Wir sind an und für sich schon o.k., wir müssen den Bürgern nur besser erklären, dass dem so ist. Merz versucht das mit einem flammenden Bekenntnis zu unterkomplexer Politikvermittlung. „Wir müssen wieder die Fähigkeit besitzen, zu erklären“ — Sprechpause, Bodenblick, Stirn in Falten —, „nicht zu simplifizieren, aber auf einen einfachen Nenner zu bringen, wo wir heute stehen, wo wir hinwollen und wie der Weg dorthin geht.“

Nun kommt Friedrich Merz tatsächlich zu einigen Inhalten: „Ich bin unserer Parteivorsitzenden in ihrer Eigenschaft als Verteidigungsministerin ausgesprochen dankbar, dass sie den Mut gehabt hat, erste Vorschläge zu machen, wie Deutschland diese Verantwortung in Zukunft wahrnehmen will.“ Inmitten all der von den Medien aufgeblasenen Machtkämpfe der Merkel-Diadochen zeigt sich jetzt: Wenn es darauf ankommt, können sich auch „Erzrivalen“ mühelos auf eine schlechte Politik einigen — Aufrüstung und mehr „Verantwortung“, also Kriegseinsätze Deutschlands in der Welt. Wer die endgültige Zerschlagung des deutsch-russischen Verhältnisses sowie Nibelungentreue zu transatlantischen Netzwerken wünscht, der ist damit übrigens auch bei Norbert Röttgen gut aufgehoben.

„Mutig“ gegen die Bevölkerungsmehrheit

Niemals fehlen darf bei Friedrich Merz das Wort „Mut“. Er selber muss ja nicht in Schützengräben liegen, schwitzen, bluten und sich von Unteroffizieren anbrüllen lassen, muss die Todesangst vor Gefechten nicht spüren, nicht mit dem seelenzerstörenden Trauma „hinterher“ leben. Gratismut nennt man so was auch. „Mut“, das meint bei Merz vor allem: Die Politik muss sich tapfer auch gegen die Mehrheit der Bevölkerung stellen.

Feigheit vor dem USA-Präsidenten, aber Mut vor dem Wahlvolk, indem man das Gegenteil dessen tut, was dieses wünscht — das ist Demokratie heute.

Währenddessen hatten Greenpeace-Aktivisten das große „C“ im Parteinamen vor der Berliner Zentrale der CDU abmontiert. Merz gibt sich cool und merkt an, die könnten das C ruhig behalten. „Aber was dahintersteht, das nehmen sie uns nicht!“ Nun würde der aufmerksame Zuhörer ein Bekenntnis erwarten, das ein wenig spezifiziert, was christlich inspirierte Politik heute bedeuten könnte. Merz jedoch sagt nur, „dass wir nämlich auch Wirtschafts- und Finanzpolitik aus einem Wertefundament heraus formulieren“.

Der Blackrock-Manager kann damit eigentlich nur Wertpapiere gemeint haben, die sein Heuschrecken-Fonds smart anzulegen weiß. Denn in seiner Rede versucht er nicht einmal, übliche Phrasen über das christliche Abendland, die Leitkultur, Frieden, Freiheit, Familie und Heimat hervorzustoßen. Er sagt — nichts. Selbst für die Simulation eines christlichen Weltbilds fehlt ihm offenbar das rhetorische Talent. Vielleicht gab erst seine Aussage gut ein Jahr später, es gehe den Staat nichts an, wie der Bürger Weihnachten feiere , einen Hinweis darauf, worauf sein Christentum hinausläuft. Wohl eher auf Symbolpolitik, denn an allen anderen Tagen des Jahres scheint Merz die Einmischung des Staates in jede Lebensregung der Menschen nicht zu stören.

In einem langen Schachtelsatz — während die Aufmerksamkeit des Zuhörers wegdriftet — gelangt Merz dann zu der donnernden Aussage: „Wir haben ein Problem.“ Auch diese Behauptung füllt er nicht inhaltlich und fährt gleich mit der Lösung fort: „Und dieses Problem müssen wir mit der Marktwirtschaft lösen und nicht ohne oder gar gegen sie.“ Aufbrandender Jubel beim Parteitag.

Mehr Kapitalismus wagen

Erst als Merz dann die Grünen erwähnt, ahnen wir, dass er mit „ein Problem“ die Klima- und Umweltkatastrophe meinen könnte. Er erspart uns jedoch Proben seiner umweltpolitischen Kompetenz — schließlich hat sich der Kandidat ja bewusst von übermäßiger Komplexität verabschiedet.

„Natürlich sind da viele unterwegs, die am liebsten dieses Vehikel nehmen würden, um gleich die ganze Wirtschaftsordnung abzuschaffen. Und die Stimmen derer, die das wollen, werden ja lauter und lauter. Wir wollen das nicht. Wir wollen mit dieser marktwirtschaftlichen Ordnung diese Herausforderung bestehen.“

Friedrich Merz hat es ja über sich gebracht, ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 ein Buch mit dem Titel „Mehr Kapitalismus wagen“ auf den Markt zu bringen. Wieder war „Wagemut“ hier sein Leitbild — ein kläglicher Versuch, an Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ anzuschließen. 2019 nun, auf dem vorläufigen Höhepunkt der Klimadebatte, rät er — man darf raten! — zur ungebremsten Fortsetzung des Kapitalismus. Warum dieser angeblich so unentbehrlich ist — wichtiger noch als das Überleben des Ökosystems, also letztlich allen Lebens auf diesem Planeten —, erklärt er nicht. Er setzt dieses „Wissen“ schlicht bei den Delegierten voraus.

Undankbare Greta!

Der nächste Punkt auf Friedrich Merz‘ Agenda ist ein ziemlich schamloses Eingeständnis seiner Absicht, die Bevölkerung zu einer kurzsichtigen Politik zu verführen — ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen:

„Die Menschen sitzen nicht da und machen sich von morgens bis abends Gedanken, ob nun tatsächlich oder vermeintlich die Welt endet. Sie machen sich Gedanken, wie der Monat endet.“

Was will der Kandidat uns damit sagen? Befürwortet er Almosen für Menschen, die mit ihrem Geld nicht auskommen bei gleichzeitiger völliger Blindheit gegenüber der realen Möglichkeit eines ökologischen Kollapses? An dieser Stelle bekommt die Fridays-for-Future-Bewegung ihr Fett ab.

„Greta Thunberg ist eine beeindruckende Person. Aber wenn sie sagt, dass wir ihr die Jugend geraubt hätten, dann muss man ihr sagen: Nein, ihr habt in der Generation die beste Jugend gehabt, die es jemals überhaupt in diesem Teil der Welt gegeben hat.“

Aufbrandender, anhaltender Applaus.

Dies ist vielleicht die peinlichste Passage an dieser an Peinlichkeiten nicht armen Rede. Merz hat nicht annäherungsweise verstanden, was Greta Thunberg gemeint hatte. Nämlich nicht, dass es ihr in Schweden nicht möglich gewesen wäre, eine materiell behütete Jugend zu verbringen. Vielmehr warf Thunberg der Politik vor: Durch eure Untätigkeit, die anstehenden dramatischen Umweltprobleme in Angriff zu nehmen, zwingt ihr mich, obwohl ich noch ein Kind bin, herumzureisen und euren Job zu machen. Ich würde auch lieber unbeschwert meine Jugend genießen.

Im Übrigen: Durch eine Politik, die den Kapitalismus nicht loslassen kann, ihn vielmehr gegen jede Vernunft und Menschlichkeit selbst dann noch bewahren will, wenn die Erde schon in Brand steht, sorgen gekaufte Politiker wie Merz dafür, dass für junge Menschen auf eine behütete Jugend verheerende Erwachsenenjahre folgen werden — geprägt durch ein Leben ohne die Schönheit intakter Natur, durch Dürre und Mangel, durch Katastrophen, die einander in dichter Folgen ablösen. Vielleicht werden von der Generation Greta überhaupt nur wenige ein hohes Alter erreichen. Friedrich Merz freilich wird sich dann, wenn die Folgen der Klimakatastrophe schon richtig schlimm geworden sind, längst in Richtung Jenseits verabschiedet haben — schlimmstenfalls, nachdem er durch ein paar Jahre Kanzlerschaft weiteres Unheil angerichtet hat.

Nach „Optimismus“ und „Selbstvertrauen“ schwört Merz die Delegierten dann auf Willenskraft ein: auf den unverhohlenen Willen zur Macht. „Mit dem klaren Willen, Verantwortung in Führung für dieses Land so zu übernehmen, dass die Menschen uns vertrauen.“

In seinen Rhetorikschulungen hat Friedrich Merz wohl gelernt, dass absolute rhetorische Gipfelmomente dadurch untermalt werden sollten, dass der Redner die Fäuste ballt oder beide Finger bohrend nach vorne, in Richtung Publikum stößt. Das war’s dann gewesen. Freundlicher Applaus. Noch freundlichere Berichte der Presse, Merz habe sich „eingeordnet“.

Ausgebremste Erlöserfigur

Warum diese Rede, die wirklich alles andere als der Rede wert war, hier nochmals aufwärmen? Weil sich das Grundmuster des medialen „Produkts“ Merz seither in keiner Weise geändert hat. Und weil nicht wenige Umfragen den Wüterich Friedrich auch noch wenige Tage vor der Wahl zum neuen CDU-Vorsitzenden in Führung sehen. Diese Tatsache wird zwar teilweise beschönigend mit Headlines wie „Laschet holt auf“ verkauft — gewinnen wird aber am Ende nur die Nummer 1.

In den letzten Monaten haben wir teilweise beruhigend klingende Nachrichten gehört, Merz sei durch die Coronakrise „ausgebremst“ worden — ohne ein offizielles Partei- oder Staatsamt seien seine berückenden politischen Qualitäten nicht voll zur Geltung gekommen. Die „Macher“, allen voran Jens Spahn, Markus Söder und Armin Laschet, hätten den Polit-Freelancer ausgestochen. Vielleicht aber ist der gegenteilige Effekt eingetreten:

Da Merz 2020 nicht mehr so viel Gelegenheit hatte, lauthals Nichtssagendes abzusondern, konnte er auch nicht mehr so viel falsch machen.

Obwohl er auch die wenigen Gelegenheiten hierzu begierig ergriffen hat. Etwa als er gnädig einräumte, nichts gegen Homosexualität zu haben, solange dabei keine Kinder missbraucht würden.

Die Öffentlichkeit jedoch verzeiht vieles, ist sie erst einmal in einen Polit-Matador „verliebt“. „Die Liebe ist langmütig“, heißt es im Paulusbrief an die Korinther. Derzeit sieht es so aus, als sei Friedrich Merz‘ Stern zwar am Sinken, überstrahle jedoch selbst noch im Fallen seine Rivalen, deren Leuchtkraft kaum das Niveau von 20-Watt-Glühbirnen erreicht. Merz könnte es also, wenn auch knapp, als Erster über die Zielgerade schaffen. Deutschland hätte dann seinen Kom-Merz-Kanzler. Und dann?

Der wahrscheinlichste Kanzler

Gelegentlich schienen die Medien auf einen schwachen CDU-Vorsitzenden zu spekulieren. Norbert Röttgen, hieß es, könne sich vorstellen, Markus Söder den Vortritt zu lassen — dem Kandidaten der Herzen in Corona-Zeiten, der offenbar die masochistische Veranlagung bei vielen deutschen Bürgern zum Vorschein brachte. Auch ein Rollentausch zwischen dem Kandidaten Armin Laschet und seinem Stellvertreter Jens Spahn ist ernstlich im Gespräch, nachdem Letzterer als „beliebtester deutscher Politiker“ — ja, Sie haben richtig gelesen — das Siegertreppchen erklommen hatte.

Friedrich Merz jedoch würde vermutlich niemals freiwillig einem anderen den Vortritt lassen. Falls er Vorsitzender wird, dürften ihn keinerlei Zweifel an seiner Eignung für die Kanzlerschaft anfechten. Merz würde durchmarschieren. Und nicht mehr die Umfragen von Anfang 2021 wären dann ausschlaggebend, die immer noch den bayerischen Ministerpräsidenten oder den Gesundheitsminister favorisieren; was allein zählte, wäre die strategisch einzigartige Stellung des CDU-Vorsitzenden innerhalb des Unions-Machtapparats.

Vielleicht wird in den nächsten Wochen auch ein Stimmungsumschwung eintreten, derart, dass viele Bürger finden, Söder hätte es mit seiner Hardliner-Attitüde zu weit getrieben. Die ökonomische Katastrophe, auf die wir zusteuern, die Pandemie der psychischen Störungen, der Corona-Überdruss würden eher Merkel, Söder und Spahn angelastet. Merz könnte sich dabei taktierend, lavierend als Unschuldslamm und kommenden Retter inszenieren — souffliert von einer merzhörigen Presse, die unablässig die „Wirtschaftskompetenz“ des Kandidaten betonen würde.

Laschet — der Corona-Softie

Schon ist in den „Leitmedien“ ein Trend festzustellen, Armin Laschet als unentschlossenen Corona-Softie zu diskreditieren. Der NRW-Ministerpräsident kommuniziere die Corona-Regeln nicht klar, setze sie nicht konsequent genug um, nölte etwa die taz. Es gebe „kein Vertrauen in Laschet“. Der Kandidat produziere „Chaos“. Oder, noch drastischer: „Opposition und BürgerInnen verzweifeln an der Coronapolitik NRWs.“ Der schlimmste Vorwurf: Laschet habe die Bürger um Einhaltung der Corona-Regeln nur gebeten, anstatt sie ihnen — wie es sich gehören würde — mit allen Mitteln staatlicher Repression aufzuzwingen.

„Im Privaten seien damit ‚Bierrunden und Kaffeekränzchen ohne Begrenzung der Personenzahl erlaubt‘, kritisierte SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty: ‚Das ist gefährlich‘, findet er — schließlich wurde in NRW auch in Teilen der Presse prompt breit darüber informiert, dass es sich bei den Kontaktbeschränkungen nicht um ein offizielles Verbot, sondern eher um eine informelle Bitte der Landesregierung handele.“

Scheitert eine Kanzlerschaft des vielleicht am ehesten geeigneten Kandidaten daran, dass dieser „Bierrunden“ in Privatwohnungen nicht mit der gebotenen Strenge verbieten wollte? Der ganze taz-Artikel scheint dem verzweifelten Versuch zu entspringen, Laschet, den aussichtsreichsten Rivalen von Friedrich Merz, als komplett unfähigen Kandidaten hinzustellen.

Wer „es“ nicht einmal im relativ kleinen Nordrhein-Westfalen hinbekommt, dem darf man nicht die Geschicke der größten westeuropäischen Volkswirtschaft anvertrauen. Womöglich hätten die Medien-Scharfmacher von der taz dann Bierrunden voll Aerosole versprühenden Frohsinns von Flensburg bis Berchtesgaden zu beklagen. Der behäbige NRW-Landesvater steht aus dieser Perspektive für gefährliches Laisser-faire, das untauglich scheint, im historischen Schicksalskampf eines Volkes gegen die Seuche Führung zu übernehmen.

Der irrelevante Dritte

Auf Norbert Röttgen indes hat sich die Corona-Propagandafront bisher weniger eingeschossen — vielleicht weil seine Aussichten, zu gewinnen, gering sind; vielleicht aber auch, weil er sich aalglatt jeder Festlegbarkeit entwindet. Röttgen steht vor allem für eine radikal transatlantisch orientierte Außenpolitik, für Russland-Hetze, wie sie in diesen Zeiten von einer Führungsperson wohl erwartet wird. Ihm könnte sogar das Außenministerium zufallen, falls die künftigen grünen Koalitionspartner Habeck und Baerbock das schwierige Amt scheuen und eher in Richtung Finanzministerium schielen sollten.

Der Überraschungskandidat sagt in der Coronafrage lieber gar nichts, um zu vermeiden, etwas Falsches zu sagen. So beklagte Röttgen im Interview mit der Welt, „dass es uns offenbar selbst angesichts einer Gefahr, die unmittelbar ihre Opfer verlangt, sehr schwerfällt, uns auf eine neue Lebensrealität einzustellen“. Auf diese Weise bleibt er im Lager der Corona-Panikmacher, ohne den von Maßnahmen geplagten Bürgern wirklich wehzutun.

Aber zurück zu Merz: Warum hat dessen „Weihnachtsbotschaft“ seinem Image in den Medien offenbar nicht geschadet? Warum hat auch seine Forderung nach einem früheren Lockdown-Ende — sonst ein No-Go in Corona-Deutschland — keinen Entrüstungssturm ausgelöst? Vielleicht weil die medialen Scharfmacher wissen, dass von „ihrem“ Kandidaten zwar gelegentliche flotte Sprüche, keineswegs aber ernsthafte Opposition gegen die kapitalistisch-autoritätsstaatliche Großagenda zu erwarten ist, die derzeit mit Macht vorangetrieben wird.

In puncto Digitalisierung und Überwachung dürfte sich der Alt-Politiker auf jeden Fall als Mann der Zukunft erweisen. So kritisierte Merz am 11. Januar 2021 die Corona-Warn-App — wegen zu viel Datenschutzes. Gleichzeitig erscheint der Kandidat flexibel, also standpunktlos genug, um auch in einer Situation, in der die Maßnahmenbegeisterung der Bürger bröckeln könnte, noch mit smarten Sprüchen Wählerstimmen einzufangen.

Das Kapital würde direkt herrschen

Eine Kanzlerschaft von Friedrich Merz wäre in mehrfacher Hinsicht ein Tabubruch, weil ihm fundamentales politisches und rednerisches Handwerkszeug fehlt. Und weil damit erstmals das Kapital direkt an den Schalthebeln der Macht säße — nicht nur indirekt, wie es ja längst Usus ist. Wir hätten einen deutschen „Fall Berlusconi“ oder „Fall Trump“ im eigenen Land.

Ein Friedrich Merz als mächtigster Mann im Staat — das wäre aber auch gewissermaßen ehrlich. Es wäre die unmissverständliche Selbstentlarvung des Politikbetriebs und „seiner“ Medien.

Jeder, der noch halbwegs bei Sinnen wäre, wüsste, wogegen er zu kämpfen hätte — man denke dabei zum Beispiel an die „Stoppt Strauß“-Kampagne von 1980.

Daher gaben seit dem Wiederauftauchen des ehemaligen Unions-Fraktionschefs nicht wenige Kommentatoren zu bedenken, es wäre vielleicht für das „linke Lager“ besser, diesen Menschen zum Gegner zu haben als einen gemäßigteren. Ich lasse an dieser Stelle einmal beiseite, dass es seit 2020 schwierig geworden ist, sich mit ganzem Herzen nach einem Sieg des „linken Lagers“ zu sehnen. Mit diesem blühte uns im Herbst bestenfalls ein sozial besser abgefederter Gesundheitstotalitarismus.

Verhindert würde eine Kanzlerschaft von Friedrich Merz wohl kaum von unserer bekanntermaßen sehr anspruchslosen Bevölkerungsmehrheit; verhindert würde sie auch nicht von besonders mitreißenden Gegenkandidaten aus anderen Parteien — nur Scholz, Baerbock und Habeck haben zumindest theoretische Chancen; allenfalls in der CDU selbst könnte der Kandidat gestoppt werden.

Zeitweise wurde in der Medienlandschaft der Eindruck vermittelt, der Alptraum einer Kanzlerschaft von Friedrich Merz sei nun vorüber — Corona habe den Vorpreschenden ausgebremst. Vielen Corona-Skeptikern indes ist es schlicht egal, wer nach einem von diffusen „Hintergrundmächten“ geschriebenen Drehbuch in der Hauptrolle des Königs agiert. Wäre es wirklich egal gewesen, hätte uns während 16 Jahren statt Helmut Kohl ein Kanzler Franz Josef Strauß regiert? Jeder kann sich selbst ein Urteil darüber bilden, ob die Entscheidung, die in diesen Tagen ansteht, wichtig ist oder eher marginal.

Es gibt ein ziemlich populär gewordenes Foto, auf dem Röttgen, Laschet und Merz jeweils mit blauem Mundschutz zu sehen sind. Mir scheint das Bild symbolisch für den Mangel an wirklichen Alternativen zu stehen, in einem Land, in dem das geistige Leben immer mehr zu einer Monokultur verkommt. Ein Corona-Linientreuer gegen einen Corona-Linientreuen gegen einen Corona-Linientreuen.

Diese Wahl erscheint alles andere als quälend, selbst für Menschen, die sich in die unterschiedlichen Nuancen des „Christdemokrat-Seins“ vertiefen wollen.

Es gewinnt immer das Kapital. Und der kalte Krieg. Und die rasante Entdemokratisierung unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes. Wer auch immer gewinnt — man mag noch Söder und Spahn zu den möglichen Kanzlerkandidaten hinzurechnen —, er bewirbt sich sehenden Auges für einen Totengräberjob. Wenn jetzt kein Wunder geschieht, dann wird der nächste Unions-Kanzler das Ende jener erträglichen, leidlich liberalen Epoche einleiten, die man als Bonner, später als Berliner Republik bezeichnet hat. Warum die drei Grazien sich um diesen Job reißen — fragen Sie mich was Leichteres!

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