Vorab: Es gibt natürlich immer noch gute Dokumentarfilme in den öffentlich-rechtlichen Medien, mal abgesehen davon, dass diese zumeist auf Sendeplätze wie Montagabend um 23:30 Uhr verbannt werden.
Bei dem ARD-Film „Als Atombomben Deutschland veränderten“ von Andreas Orth am 19. März 2018 zu dieser nachtschlafenden Zeit hat man jedoch keineswegs eine Geschichtsstunde verpasst. Der Anspruch des Filmautors, den Höhepunkt der deutschen Friedensbewegung in den 80er Jahren in 45 Minuten abzuhandeln, ist vielmehr als Tiefpunkt für dieses Genre anzusehen.
Geboten wurde ein Film, der viele Filmschnipsel präsentiert, ohne überhaupt ansatzweise die Hintergründe auszuleuchten. Fairerweise muss man sagen: Dazu bedürfte es im Minimum eines Dreiteilers zu je 45 Minuten, geht es hierbei doch um mehrere Handlungsstränge und eine längere Vorgeschichte, die im Film kaum angerissen werden:
- Die Ambitionen von Konrad Adenauer, für den 1957 taktische Atomwaffen „nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie“ waren, was zur Gründung der Bewegung „Kampf dem Atomtod“ führte.
- Die Bestückung von Sprengschächten mit Atomgranaten entlang der damaligen innerdeutschen Grenze (im Film genanntes Stichwort: „Fulda Gap“).
- Die Modernisierung der seit Anfang der 60er Jahre in der Sowjetunion stationierten SS-4 Raketen (was im Film nicht erwähnt wird) mit den zielgenaueren SS-20 Raketen ab 1977.
Die Handlungsstränge zur Friedensbewegung der 80er Jahre – die im Film hätten genannt werden müssen – sind:
- Bereits in den 70er Jahren gab es eine starke Friedensbewegung, die damals in Folge der von Willy Brandt angestoßenen Entspannungspolitik für weitergehende Schritte zur Abrüstung auf die Straße ging. Parallel dazu entwickelte sich eine starke Umweltbewegung, die gegen Atomkraftwerke vorging.
- Die Partei Die Grünen verdankt ihren Aufstieg im Wesentlichen diesen beiden zivilgesellschaftlichen Bewegungen. Heinrich Böll – im ARD-Film kurz gezeigt – war wohl der prominenteste Friedensaktivist der damaligen Zeit. Heute ist Heinrich Böll der Namensgeber der parteinahen Stiftung von Bündnis90/Die Grünen, die ihren Gründungs-Pazifismus längst über Bord geworfen hat.
- Dass damals die SPD, die bis 1982 den Bundeskanzler stellte, einer Zerreißprobe unterworfen wurde, wäre ebenfalls einer näheren Betrachtung wert. Ebenso hätte die Kritik an der atomaren „Nachrüstung“ bis hinein in die CDU/CSU ein Thema sein müssen. In einem kurzen Satz erfährt man im Film immerhin, dass sich auch nach 1983 noch 61 Prozent der CDU-Wähler gegen die NATO-„Nachrüstung“ aussprachen.
Die extreme Zuspitzung des Ost-West-Konfliktes 1983 hätte man sicher nur in einer eigenen 45-Minuten-Sendung ansatzweise verständlich darstellen können. Das gilt vor allem für den Abschuss der koreanischen Passagiermaschine KAL007 durch das sowjetische Militär. Zu der NATO-Kommandostabsübung Able Archer 83 wird in dem ARD-Film aus einem später deklassifizierten, 1990 erstellten US-Geheimdokument zitiert, dass man damals nur um Haaresbreite („on a hair trigger“) von einem Atomkrieg entfernt gewesen sei.
Im Film heißt es dazu:
„Beide Seiten blieben damals wie durch ein Wunder gelassen.“
Bekannt ist aber, dass die sowjetische Führung dieses keineswegs gelassen gesehen hat, sondern als echte Vorbereitung zum atomaren Erstschlag. Nur durch den Spion Reiner Rupp alias Topas im NATO-Hauptquartier und dessen umfassenden Informationen an die Gegenseite konnte dieses verhindert werden, was man in dem Film nicht erfährt.
Stattdessen kommt der frühere Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat zu Wort, für den „die damalige NATO-Strategie bis heute ein Erfolg“ ist, wenngleich er dabei offen sagt, dass es sich bei dem „NATO-Doppelbeschluss“ keineswegs um eine Nachrüstung gehandelt habe.
Dass Reagan und Gorbatschow „wenige Monate“ nach Able Archer 83 in Island die Verschrottung der Atomwaffen beschlossen hätten, zeugt von grober Nachlässigkeit des Filmteams. Tatsächlich fanden diese Verhandlungen ziemlich genau drei Jahre später statt.
Fazit: Was für geschichtlich unbedarfte Zuschauer hängen blieb, kann man vielleicht so zusammenfassen: Es erfolgte Anfang der 80er Jahre eine atomare Nachrüstung der NATO, die Russen hatten ja schließlich damit angefangen. Die „Nachrüstung“ hat sich ausgezahlt, den Jahre später war Gorbatschow zur atomaren Abrüstung bereit.
Das klingt irgendwie nach der heutigen Situation: „Die NATO muss aufrüsten, weil die Russen…“.
Der ARD-Film von Andreas Orth ist damit ein Beispiel dafür, wie man das Genre Dokumentarfilm auf das Niveau der Tagesschau-Sendungen herunterziehen kann, was keinerlei weiteren Kommentierung bedarf.
Geschichte im Ersten: Als Atombomben Deutschland veränderten