Im Netz bin ich auf Präsentationen von einigen Zwiegesprächen gestoßen. In einem hält der amerikanische Journalist und Friedensaktivist, Danny Haiphong, der den Blog „Left Lens“ betreibt, nicht damit hinterm Berg, wo er politisch steht. Er befragt zwar Scott Ritter zum neuesten Stand im Ukraine Krieg, flicht aber selbst zwischen den Fragestellungen aktiv seine Meinung ein. Zum Schluss erkundigt sich Haiphong, warum Ritter eine Teilnahme an einer speziellen Veranstaltung der amerikanischen „Antikriegsbewegung“ ablehnt, womit er zum Kern der Sache vordringt. Das Diskussionspaket, um das es mir in diesem Beitrag geht, war komplett, als ich kurze Zeit später den Schweizer Daniele Ganser, eingeblendet als „Historiker und Friedensforscher“, auf RTV, einem regionalen, aus der oberösterreichischen Industriestadt Steyr sendenden TV-Format hörte. Er sagte einleitend: „Ich verurteile diese Invasion; sie ist illegal; ein Land darf nicht in ein anderes Land einmarschieren; da bin ich einverstanden mit den Massenmedien.“ Anmerken muss ich, dass zuerst der grüne Bürgermeister von Innsbruck und dann der SP-Bürgermeister von Steyr, befeuert von der gegen Ganser hetzenden Tageszeitung Der Standard, Auftrittsverbote für die ursprünglich vorgesehenen Veranstaltungsorte von Ganser erlassen haben, sodass er spontan ausweichen musste.
Es gibt keine Weltregierung, es gibt kein Weltgeld, und die Weltbevölkerung ist ethnisch und religiös höchst divers. Im Lauf der Geschichte hat sich die Nation als Ultima Ratio des staatlichen Regierungshandelns herausgebildet. Es gibt große, mittlere und kleine Nationen und solche, deren Regierungen sich einbilden, wichtiger, mächtiger, schlauer zu sein als andere; Nationen die sich überschätzen, weil sie leugnen, dass sich die Welt zu ihren Ungunsten verändert.
Alle Nationen haben selbstverständlich stets ein bestimmtes Verständnis von sich selbst, große Nationen darüber hinaus aber auch bestimmte Ordnungsvorstellungen von der gesamten Welt. Die Beschaffenheit der Weltordnung ist auf Grund der wirtschaftlichen und daher auch politischen Konkurrenz der Nationen gekennzeichnet von einer latenten Unruhe. Phasen der Latenz, Friedenszeiten, kippen in Krieg um, wenn sich die Konkurrenzverhältnisse der Nationen verschärfen und sich die Spannungen in bewaffneten Auseinandersetzungen entladen. Wenn Krieg herrscht, herrscht nicht nur auf dem Schlachtfeld massive Gewalt, sondern auch Kriegsstimmung im Inneren der Nationen.
Als die USA in Vietnam intervenierten, zunächst durch einen Stellvertreter, die südvietnamesische Armee, und später nach Art einer „Mission Creep“, eines Hineinschlitterns, bis zu 500.000 amerikanische Soldaten in diesen Krieg schickten, sahen sie in der weiteren Ausbreitung des Kommunismus eine existentielle Bedrohung für die eigene Nation. Die USA kreierten die „Domino-Theorie“, die besagte, dass der gesamte asiatische Raum dem Kommunismus in die Hände fiele, wenn sie nicht militärisch aufmarschierten. Die Eliminierung einer Ideologie lieferte ihnen einen wesentlichen Kriegsgrund. Als in Jugoslawien die verschiedenen Ethnien aufeinander zu schießen begannen, betrachtete es Joschka Fischer als eine humane Tat, an der Seite der USA, die immer zur Stelle sind, wenn irgendwo Krieg ausbricht, auf dem Balkan zu intervenieren, um dem Völkermorden ein Ende zu bereiten. Schutz als Kriegsgrund. Als nach 9/11 das Gerücht aufkam, dass Saddam Hussein hinter den Anschlägen stecke und über Massenvernichtungswaffen verfüge, wurde als Kriegsgrund „Entmilitarisierung“ des Irak genannt. Lauter „gute“ Gründe, gegen die Argumente vorzubringen, vor allem im Jugoslawien- und im Irakkrieg, nicht wirklich gelungen ist.
Medien auf Seiten der Regierungen
Vietnam war anders. Der Krieg dauerte viel länger, als die USA dachten, und viele amerikanische Soldaten kamen ums Leben Zudem fielen zunehmend junge Menschen in den USA der eigenen Regierung in den Rücken und erkoren nordvietnamesische Kämpfer, an erster Stelle Hồ Chí Minh, zu ihren neuen Helden. Kurzfristig, denn nach Kriegsende kühlte die Begeisterung sehr rasch ab. Während im Vietnamkrieg die Medien noch sachlich und teilweise gegen die Vorgehensweise des Weißen Hauses berichteten, geschah dies im Jugoslawien- und Irakkrieg nur mehr in Ausnahmefällen. Die Politiker und Politikerinnen, die NATO und die Medien zogen am selben Strang. Das Wahlvolk nahm das Kriegshandeln nicht nur mit Desinteresse zur Kenntnis, sondern die Medien wollten die Begründungszusammenhänge hinter deren Kulissen nicht mehr darlegen. Diese Strategie wirkte so überzeugend, dass die Pazifisten aller Couleurs verschämt den Schwanz einzogen oder zum Beispiel den NATO-Einsatz in Jugoslawien plötzlich bejahten, wie etliche amerikanische Feministinnen. Außer jenen, gegen die sich diese Kriege richteten, fühlte sich niemand bedroht und daher kam auch kein Gefühl der Solidarität auf. Schlimme Kinder, gerechte Strafe. Damit ist eigentlich alles gesagt bezüglich der Mentalität derjenigen, die nicht betroffen sind.
Es wird daher immer schwieriger, daran zu glauben, lokale Kriege, wo und von wem auch immer, könnten verhindert werden, wenn die Regierungen und die Militärs sie führen wollen. Und die NATO führt gerne lokale Kriege, bevorzugt gegen inferiore Gegner. Sie argumentierte und drängte damit die Pazifisten ins Abseits mit dem Argument: Hätten wir die Kriege nicht geführt, wäre Vietnam zügiger kommunistisch geworden, dann hätten die Völker Jugoslawiens bis zur letzten Patrone aufeinander geschossen, und Saddam Hussein wäre zum Herrscher einer Atommacht geworden. All das hättet ihr nicht wollen können und euer Erfolg, diese Kriege zu verhindern, wäre ein Pyrrhussieg gewesen. Es ist dies das ewiggleiche Argumentationsmuster von Kriegstreibern: Frieden um jeden Preis sei ein Unding.
Aufklärung der Lügen
Weil in der Regel beim Anzetteln von Kriegen gelogen wird, dass sich die Balken biegen, haben Historiker nach ihrem Ende alle Hände voll zu tun, diese Lügen aufzuklären. Ihre Resultate interessieren aber nur eine Minderheit. Das bestätigt den weisen Satz, die Menschen lernten nichts aus der Geschichte. In Wahrheit ist das menschliche Verhalten stets ein dynamisches System, bei dem nie exakt vorhersehbar ist, wohin es führt. Man kann es die menschliche Tragik nennen. Würde die Menschheit ihre Zukunft kennen, sähe vieles anders aus.
Zwar kenne ich die russischen Kriegsgründe, die Vorgeschichte, aber den Ausgang des Ukrainekriegs kenne ich nicht. Nach einem Jahr intensiver Beschäftigung mit dem Krieg und dem Verfassen einer 300-seitigen Studie über die historischen Hintergründe, die der Veröffentlichung harrt, wenn der Krieg zu Ende ist, sehe ich kristallklar: Die NATO führt den permanenten Weltkrieg. Sie ist kein ruhender militärischer Pol, sondern sie teilt aus. Anders formuliert, der Hegemon des Bündnisses, die USA, teilt aus und verpflichtet dann die anderen, kleineren Bündnispartner mitzuziehen.
Zur Erinnerung: Die zunächst friedlichen Demonstrationen von Ende 2013 bis weit ins Jahr 2014 hinein auf dem Kiewer Maidan-Platz wurden von aus dem Westen herangekarrten Verehrern Banderas, einem seinerzeitigen üblen Nazi-Kollaborateur und Anführer von Mordbrigaden, die im Zweiten Weltkrieg tausende Polen, Ukrainer und Juden dahinmetzelten, unterwandert. Schließlich endete der von den USA gestützte Putsch mit der Flucht des gewählten Präsidenten und der Einsetzung einer Regierung, die auf bedingungslosen Assoziationskurs der Ukraine in Richtung EU und NATO lossteuerte. Sofort annektierte Russland daher die Krim, die nicht — wie fälschlich behauptet — vollkommen ukrainisch war, sondern einen halbautonomen Status hatte, der sicherstellte, dass der wichtige russische militärische Schwarzmeerstützpunkt Sewastopol unter russischer Kontrolle bleiben konnte. Durch den Putsch sahen die Russen die Gefahr, dass die ukrainische Armee im Handumdrehen Sewastopol einkassieren würde. Schon bald begannen im Donbass bürgerkriegsähnliche Kampfhandlungen. Denn dort bestand die Bevölkerung hauptsächlich aus russischstämmigen Menschen, die die Russen diskriminierenden Resultate des Maidan-Coups ablehnten und zu den Waffen griffen. Als sich eklatante Schwächen beim ukrainischen Militär zeigten, wurden zum Schein Schlichtungsgespräche begonnen — Minsk I und Minsk II. Doch nur — wie heute allgemein bekannt —, um Zeit zu gewinnen und mithilfe der NATO die ukrainische Armee und die Bataillone der Neonazis ordentlich aufzurüsten.
Acht Jahre lang warb die russische Regierung unter Wladimir Putin vergeblich darum, vom Westen gehört zu werden.
Der Kreml war der Meinung, der Westen habe in der Ukraine so viele rote Linien überschritten, dass eine „existenzielle Bedrohung“, so John Mearsheimer, für Russland entstanden sei. Diese Bedenken stießen im Westen auf taube Ohren. Als Mitte Februar 2022 die von der NATO hochgerüstete ukrainische Armee dem „Bürgerkriegsunfug“ im Osten ein Ende bereiten und die besetzten Teile des Donbass und die Krim zurückerobern wollte, kamen dem die Russen mit einer am 24. Februar 2022 gestarteten militärischen Spezialoperation zuvor. Ich lasse nicht von der Überzeugung ab, dass Russland in diesem Krieg in der Verteidigungsposition ist. Die NATO existiert nur mehr aus einem einzigen Grund: Russland als Staat in seiner jetzigen Form zu zerstören. Das kann man selbstverständlich auch anders sehen. Markant ist aber, dass 80 Prozent der Menschen auf dem Planeten das so sehen und sich nicht an den Sanktionen beteiligen. Nur der sogenannte vereinigte Westen, die USA, Europa, Japan, Australien, Kanada und Neuseeland betrachten Russland als den Aggressor und drücken auf die Sanktionstube.
Stetige Ausdehnung der NATO
Frieden unter Weiterexistenz der NATO ist für mich nicht für eine Sekunde, geschweige denn für Jahre, gar wieder für Jahrzehnte, wie glücksbedingt erlebt, denkbar. Die ständige Ausdehnung der NATO ist einer der Hauptfaktoren für diesen Krieg. Die NATO kann zwar sagen, sie selbst habe bis jetzt keinen einzigen Schuss abgegeben, sie agiert aber sehr ähnlich wie die Amerikaner in der Anfangsphase des Vietnamkriegs und der hat dann 10 Jahre gedauert. Aus vielerlei Gründen, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen will, hat er mit der größten Niederlage der USA nach dem Zweiten Weltkrieg geendet. Dagegen sind die Resultate, die im Jugoslawienkrieg erzielt wurden, nachgerade als „Erfolg“ zu werten.
Wenn die NATO auf Sieg setzt, dann stehen wir am Beginn eines Dritten Weltkriegs.
Im Gegensatz zu den letzten Jahrzehnten ist der Westen militärisch nicht mehr stark genug, die alleinige Weltherrschaft auszuüben. Große und mittlere Nationen denken um und weigern sich, sich dem Diktat des Westens widerstandslos unterzuordnen. Wer diesen Prozess am wenigsten einsehen mag, ist naturgemäß der Westen selbst. Der letzte große Sieg des Westens war der Sieg gegen Nazi-Deutschland, der ohne den erfolgreichen, aber sehr opferreichen Kampf der Sowjetunion möglicherweise zu einem faulen Frieden mit Hitler geführt hätte und nicht wie de facto geschehen, nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reichs, die Teilung Deutschlands erzwungen hat. Was Michail Gorbatschow anfocht, die Wiedervereinigung dieses seit undenklichen Zeiten in Kriege verstrickten Landes zuzulassen, wird noch lange Zeit eines der größten Rätsel der Geschichte bleiben. Annalena Baerbock jedenfalls ist die aus der Rippe des Adam-M. G. geborene Eva, die ihm nun den vergifteten Apfel reicht.
Zu Zeiten, als die USA und die NATO ihre Kriege in Vietnam, Jugoslawien und im Irak führten, waren die Kräfteverhältnisse so gelagert, dass dieses westliche Machtkonglomerat stark genug war. Auch konnte es die Begründungen für seine Kriege, die Bekämpfung der „falschen“ Ideologie, der Schutz ethnischer Minderheiten und die Entmilitarisierung, in vielen Teilen der Welt erfolgreich als legitime Kriegsgründe verkaufen. Mit dem Bukarest Summit, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, ist das Ende der Fahnenstange für derartige „Verkaufserfolge“ erreicht gewesen. NATO steht für Bewaffnung. Bewaffnung ist immer Bedrohung. NATO-Mitgliedschaft gibt es nur, weil Russland als souveräner Staat existiert, der nach einem kurzen verhängnisvollen Intermezzo in den 1990er Jahren nicht mehr das tut, was der Westen will. Die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, bedeutet die Möglichkeit, das NATO-Waffenarsenal dort jederzeit aufbauen zu können beziehungsweise zu dürfen und die Bedrohungskulisse ganz nah an das russische Regierungszentrum in Moskau heranzuschieben, es bedeutet die Belagerung Russlands. Belagern, auf der Lauer zu liegen, in Bereitschaft zu sein und — permanent zu erpressen. Wenn ihr nicht das tut, was wir euch anschaffen, dann eh schon wissen…
Wer diese Gefahr nicht begreift, ist ein Ignorant und Dummkopf. Wer gar davon überzeugt ist, dass die Präsenz der NATO in diesen Ländern auch eine Sicherheit für Russland bedeute, ist ein Krimineller. Es gibt keine legitimen Kriegsgründe, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, außer man will dieses Land bis auf die Zähne bewaffnen und als Katapult sehen, Russland in einen langen Abnützungskrieg hineinzuziehen, es so zu schwächen, dass sich im Inneren Unmut regt und westliche Hilfe herbeigefleht wird. Dann wäre endlich wieder für die Amerikaner, die EU und die NATO ein Grund gegeben, herbeizueilen und unter dem Vorwand aus ihrem liberalen Füllhorn Freedom und Democracy, Sicherheit und Prosperität zu verteilen, sich die Reichtümer des Landes anzueignen. Das ist ja in Wahrheit sowieso eines der Ziele des Krieges auf Seiten der Amerikaner. Dass Europa sich dabei den Amerikanern sklavisch unterordnet, beweist seinen momentanen absoluten Vasallenstatus, viel schlimmer als früher. Denn den damaligen Generationen europäischer Politiker ist es trotz militärischer Abhängigkeit von den USA gelungen, sich friedlich mit günstigen russischen Rohstoffen zu versorgen. Es bedurfte keines imperialistischen Zugriffs. Einen solchen haben die baltischen und andere osteuropäische Länder hingenommen. Russland will das nicht, was ich gut verstehen kann.
Die Welt außerhalb des Westens hat durch intensives Studium all dieser Kriege erkannt, dass die Versprechen, im Zuge solcher Kriege Freedom und Democracy, Sicherheit und Prosperität zu bringen, leere Versprechen sind, die in der Realität nie eingelöst werden. Anstatt sich wie früher dem Diktat des Westens zu fügen, beharren immer mehr Nationen darauf, eigene Wege zu beschreiten, weil sich die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten verschoben haben. Das sieht man insbesondere daran, dass die Sanktionen, generell die wirre Sanktionspolitik des Westens, die früher zweifelsohne Russland in die Knie gezwungen hätte, nicht mehr funktioniert. Denn die Abhängigkeiten sind nicht mehr so krass und vor allem können sich die sanktionierten Nationen gegenseitig helfen und die Effekte paralysieren.
Das hat die Regierungsmannschaft Russlands richtig eingeschätzt und unter Anführung zweier wesentlicher Kriegsziele, „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine, am 24. Februar 2022 ihre Spezialoperation begonnen. Ähnlich wie die Amerikaner im Vietnamkrieg die Eliminierung einer Ideologie als wichtigen Kriegsgrund angeführt haben, so nennt Russland jetzt die „Entnazifizierung“. Auch der Kriegsgrund „Entmilitarisierung“, den die Amerikaner im Irakkrieg genannt haben, spielt bei der russischen Spezialoperation eine Rolle. Und so wie Joschka Fischer seinerzeit als Kriegsgrund angegeben hat, er müsse im Jugoslawienkrieg intervenieren, um dem Völkermorden ein Ende zu bereiten, so führen auch die Russen als Kriegsgrund an, sie müssten der russischen Bevölkerung im Donbass zu Hilfe eilen, denn diese sei seit Jahren dem Genozid durch Bandera-Milizen ausgesetzt. Drei plausible Kriegsgründe hie, drei da. Stets war sowohl damals als auch heute viel Substrat vorhanden, in den Krieg zu ziehen.
Seltsame Rituale
Eine der lächerlichsten Wortschöpfungen ist jene der deutschsprachigen Mainstream-Medien, die jede Stellungnahme zum Ukrainekrieg mit dem Diktum von „russischen Angriffskrieg“ einleiten. Das macht objektiv keinen Sinn, ist jedoch stark subjektiv konnotiert. Es drückt eine hohe Identifikation der europäischen Eliten mit einer idealisierten Ukraine aus. In ihrer Fantasie, die keinen Funken Realität enthält, stellen sich einige unter ihnen das Land als einen Garten Eden vor, der jäh und mutwillig zerstört wird. Wie in den Darstellungen der Sacra Conversatione in den Bildern der Renaissance versammeln sie sich zu huldvollen Gesprächen, reichen den ukrainischen Präsidenten wie einen verehrungswürdigen Heiligen herum und legen ihm zu Füßen, was immer er an Waffen und Geld verlangt. Sie knien vor ihm und seinem Land wie vor einem Altar. Ursula von der Leyden ist die Mater Dolorosa, die gramgebeugt die Zahl der getöteten ukrainischen Soldaten verkündet. Das Wort vom „russischen Angriffskrieg“ leitet ein Ritual ein, es ist der Auftakt zu einer Teufelsaustreibung, als welche die Nachrichten vom Ukrainekrieg allabendlich daherkommen. Was Sieg im militärischen Sinn eigentlich bedeutet, ist diesen abgehobenen Politikerfiguren fremd, denn sie sind wie ich Kinder einer zufällig von längerer Dauer gewesenen Friedenszeit.
Im Gegensatz zu all jenen, die sich abmühen, das Kriegsgeschehen halbwegs objektiv zu erläutern, was nur mehr mit Hilfe des Netzes möglich ist, weigern sie sich, der Realität des Krieges ins Auge zu blicken und sich mit seinen Gründen, die sie mitgeschaffen haben, ernsthaft auseinanderzusetzen. Sie sind in hohem Maß dekadent infiziert, sie bräuchten Freud’sche Hilfe, jemanden, der ihnen einen Spiegel vorhält, damit sie einen Blick auf ihr irregeleitetes Unterbewusstsein werfen können. Sie sind an Hybris, an Empathie-Losigkeit, an Gedächtnisschwund erkrankt.
Die seltsame Einbildung, der Westen sei auf einem ach so guten, friedlichen, grünen, toleranten, irgendwie linken Weg gewesen, bis der böse, „hitlerische“ Russe aus heiterem Himmel gekommen sei und alles zerstört habe, sollten sich die Herrschaften in Berlin, Brüssel und Washington schleunigst abschminken. Die Realität sieht anders aus.
Angetrieben wird der politische Westen längst von den NATO-Militärs, die sich in Kriegsdingen vorwiegend auf die US-„Experten“ verlassen. Deren Einschätzungen haben allerdings mit der Realität auf dem Schlachtfeld herzlich wenig zu tun. Sie sind Ausdruck eines Wunschdenkens, einer gefährlich irrationalen Selbstüberschätzung, die nur ein Dogma kennt: Mehr Waffen = mehr Sicherheit. Das ist sehr gefährlich obendrein, denn es besteht die Gefahr, dass sich Europa nach dem Krieg, wenn es nach diesem Dogma ans große Aufrüsten gehen wird, nach US-Vorbild in einen sehr stark militaristisch ausgerichteten Kontinent verwandeln wird. Ich stelle schon einmal das Wort „NATO/EU-geführte Militärdiktatur“ in den Raum.
Wie sagte Karl Kraus: Zu Hitler falle ihm nichts ein. Er meinte wohl, seine Mittel, die Mittel der Sprache, reichten nicht aus, den Mann zur Räson zu bringen. Meine Mittel reichen ebenfalls in keiner Weise aus, den westlichen Imperialismus zur Räson zu bringen. Aber vielleicht haben Russland und China Erfolg. Dann werden wir ja sehen, wie die weitere Entwicklung verläuft. Garantien, dass Zeitenwenden gelingen, gibt es nicht.