Ein gespaltenes Bewusstsein oder unzureichende Klarheit?
Deutschland hat aus den Widersprüchen der Kapitalverwertung heraus einen sehr speziellen und höchst problematischen Weg gewählt, die Exportorientierung. Damit wird der Widerspruch zwischen dem angeeigneten, aber noch nicht realisierten Mehrwert und seiner stets gefährdeten Realisierung durch das Absatzproblem der erzeugten Waren über die Auslandsnachfrage gelöst. Es genügt ja nicht, kostengünstig eine Warenmenge zu produzieren. Erst, wenn sie auch verkauft ist, wird der Kreislauf geschlossen.
Im Unterricht wäre jetzt eine Reflexion über den widersprüchlichen Doppelcharakter der Ware Arbeitskraft fällig, zum Beispiel mit folgendem Gedankengang:
Autos kaufen keine Autos oder: Der Doppelcharakter der Arbeitskraft
Einerseits ist die Arbeitskraft ein Kostenfaktor, den der Unternehmer beziehungsweise die Unternehmerin minimieren muss, um den Gewinn zu maximieren. Andererseits sorgen hohe Gehälter auch für eine kaufkräftige Nachfrage und garantieren so den Absatz der erzeugten Waren.
Um es bildhaft auszudrücken:
Jedes Unternehmen hätte gern seine Arbeitskräfte so billig wie möglich; aber die Arbeitskräfte der anderen Unternehmen sollten schon so viel Kaufkraft haben wie möglich.
Oder, wie Ford es angeblich formuliert hat: „Autos kaufen keine Autos“. Oder in marxistischen Kategorien: Einerseits ist die Ware Arbeit die Quelle für den Mehrwert im Produktionsprozess, andererseits muss der Kapitalist den Mehrwert, der in der Ware steckt, dann auch realisieren, das heißt verkaufen. Und hier stößt er bereits auf eine Schranke.
Der Exportüberschuss ist eine Möglichkeit, sie zu durchbrechen.
Diese Möglichkeit nutzt kein anderer wirtschaftlich hoch entwickelter Staat so extrem wie Deutschland, wie noch gezeigt wird. Inzwischen steht Deutschland mit den Export- und Leistungsbilanzüberschüssen – 2014 mit 288 Milliarden Dollar – einsam an der Weltspitze, seit der Jahrtausendwende mit erheblich steigender Tendenz. Das hat aber für das mehrheitliche Bewusstsein der deutschen Bevölkerung sowie der meisten Politiker und Verbandsfunktionäre bis hin zu vielen Gewerkschaftsführungen eine höchst ambivalente Auswirkung.
Denn die Lösung für Deutschland ist gleichzeitig das Problem der anderen Staaten. Dass es sich um eine Politik auf Kosten und zu Lasten der Arbeitsplätze des Auslands handelt, was in der klassischen Volkswirtschaftslehre als „beggar-my-neighbour-Politik“ seinen Ausdruck findet, wird von unseren Medien deshalb fast vollständig beschwiegen.
Immerhin verstößt unsere Regierung permanent gegen eigene Gesetze, hier das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG)“ vom 8. Juni 1967, das als Staatsziel immerhin die Verfolgung des Erreichens außenwirtschaftlichen Gleichgewichts verlangt. Aber dieser Verstoß scheint nicht einmal der Erwähnung wert. Der Grund liegt schlicht darin, dass unsere Arbeitslosigkeit in Deutschland, würde sie nicht „exportiert“, dann vermutlich bei 13 Prozent statt bei 4 Prozent liegen würde, wie später noch gezeigt wird.
Und so überwiegt bei der deutschen Bevölkerung ein gewisser Stolz – deutsche Wertarbeit ist auf der ganzen Welt sehr begehrt –, während im Ausland das Unverständnis wächst, mit steigender Tendenz. Wenn man allerdings bedenkt, mit welch katastrophalen Auswirkungen deren Bevölkerung zum Teil zu kämpfen hat, verwundert eher die bisherige Zurückhaltung.
Obwohl die Bundesrepublik Deutschland in Europa bereits als „Zuchtmeister“ anderer Staaten gilt, weil sie anderen Staaten ihr Austeritätsmodell aufzwingen will – und dies in Bezug auf Griechenland in besonders zynischer Weise tut –, will man das in der deutschen Bevölkerung nicht gerne hören.
Dennoch:
Dass die deutsche Bevölkerung infolge der Exportorientierung zwangsläufig auf Kosten anderer Länder lebt, weil jedes Land mit einem Exportüberschuss ein oder mehrere andere Länder als „Partner“ benötigt, die ein Handelsdefizit aufweisen, lasst sich sogar in der Schule leicht vermitteln.
Aber zwischen rationaler Erkenntnis und der Bereitschaft, dies anzuprangern, klaffen doch Welten.
Denn dies zu ändern, würde nicht nur einen weitreichenden Bruch mit der auch in Deutschland vorherrschenden neoliberalen angebotsorientierten Wirtschaftspolitik erfordern, sondern die Arbeitsplatzvorteile sehr sinnfällig in Frage stellen. Jedenfalls solange keine Alternative angeboten wird, wie sie im Folgenden dargestellt wird. Aber diese Alternative findet sich leider nur als Minderheitenposition – wenn überhaupt wahrgenommen – in der öffentlichen politischen Diskussion.
Während Deutschlands Exportüberschüsse also einen Rekord nach dem anderen brechen, würde man sich in Deutschland in dieser Hinsicht gerne mental einigeln und diesen wirtschaftlichen Sonderstatus mit den einzigartigen Exportüberschüssen still und leise möglichst noch lange weiter genießen. Dass Deutschland auch bei der Leistungsbilanz einsame Weltspitze ist, erfreut also insgeheim Politiker, Unternehmen, Gewerkschaften, Medien und so weiter, weil es „Standortstärke“ demonstriert und „Wohlstand sichert“.
Der kabarettistische Ausspruch „Ich weiß gar nicht, was Angela Merkel macht, aber das, was sie macht, macht sie gut“ (Urban Priol) karikiert ein scheinbar schizophrenes Bewusstsein der Wähler. Aber so schizophren ist dieses Bewusstsein womöglich gar nicht.
Es könnte nämlich auch ganz anders sein: dass nämlich die Menschen durchaus wissen oder zumindest ein Gefühl dafür haben, dass diese Politik auf Kosten anderer es eben auch verhindert, „dass es uns auch so geht wie den Griechen, Spaniern“ und so weiter.
Vielleicht ist es ja so, dass man es im Grunde weiß oder zumindest ahnt, dass der Exportüberschuss und das, was uns gegenüber anderen Ländern einen Vorsprung verschafft, nicht hauptsächlich dem eigenen Erfindergeist und der nationalen Tüchtigkeit zuzuschreiben ist, sondern einer knallharten Freihandelspolitik, die auch vor der Einschränkung nationaler Politikgestaltungsmöglichkeiten über entsprechende Abkommen und der Aushöhlung von Rechtssystemen nicht Halt macht.
Ob das Ausmaß solcher Abkommen und die Tatsache, dass Deutschland dabei zu den treibenden Kräften gehört, allerdings in der breiten Öffentlichkeit bekannt sind, darf doch bezweifelt werden, macht allerdings die Aufklärung umso dringlicher:
Die in bilateralen Investitionsschutzabkommen verankerten Schiedsgerichte zur Beilegung von Streitfällen zwischen ausländischen Unternehmen und nationalen Regierungen (ISDS) sind nach Ansicht des EuGH unzulässig, schreibt das Umwelt-Institut München am 6. März 2018. Ähnliche Klauseln seien in fast 200 weiteren innereuropäischen Abkommen verankert. Und weiter:
„Die EU-Kommission fordert die Mitgliedsstaaten bereits seit Jahren auf, die Bilateralen Investitionsschutzabkommen zu beenden, weil sie sowohl unnötig als auch mit EU-Recht unvereinbar seien. Die Bundesrepublik gehört zu den wenigen verbliebenen Verfechtern der innereuropäischen Investitionsschutzabkommen.“
Dass das Bundesverfassungsgericht dafür gesorgt hat, dass die vorläufige Inkraftsetzung des Freihandelsabkommens CETA in Deutschland ohne die Investorenstreit-Verfahren erfolgen musste, geht in eine ähnliche Richtung. Dabei ist die Inanspruchnahme von ISDS durch Investoren seit den 1990er Jahren von einer kaum merklichen Anzahl von Fällen auf etwa 70 Fälle pro Jahr heute deutlich gestiegen. Sieben der zehn Heimatländer, deren Investoren am häufigsten unter Investitionsabkommen klagen, sind Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Das ins Bewusstsein zu heben oder gar zuzugeben, wäre aber eher peinlich, weshalb man im Grunde froh ist, wenn Angela Merkel und andere das schmutzige Geschäft eher still und leise hinter den Kulissen der EU und anderswo betreiben. Ein solches Gefühl, wir seien einigermaßen besser aus Finanz-, Euro- oder Wirtschaftskrisen weggekommen als unsere Nachbarn, ist allerdings kein tragendes Zukunftsgefühl!