Die Schuldenquote ist in Deutschland seit 1975 von 20 Prozent kontinuierlich auf 40 Prozent im Jahr 1992, beinahe auf 60 Prozent in 2002 und auf 81 Prozent in 2010 gestiegen. Sie sank erst 2016, nicht zuletzt als Folge der Schuldenbremse, auf 71 Prozent. Bei näherem Hinsehen stellt sich die steigende Staatsverschuldung – wie übrigens auch die steigende Massenarbeitslosigkeit, die sinkende Lohnquote, eine von unten nach oben erfolgte Einkommensumverteilung und eine dramatische Aufblähung des spekulativen Finanzsektors – als ein prägnantes Indiz des historischen Systemwechsels vom keynesianischen zum neoliberalen Kapitalismus dar.
Denn nicht nur in Deutschland, sondern in allen wichtigen kapitalistischen Staaten ist die Schuldenquote zwischen 1975 und 2016 sprunghaft angestiegen: in den USA von 38 auf über 100 Prozent, in Großbritannien von 20 auf 85 Prozent, in Frankreich von 18 auf über 100 Prozent und in Japan sogar von 30 auf 240 Prozent. Nach vier Dekaden neoliberaler Wirtschaftspolitik muss gefragt werden, warum der keynesianische Staat mit seinen enormen Ausgaben für den Aufbau des Wohlfahrtstaates und den Wiederaufbau der Infrastruktur nach der flächendeckenden Zerstörung durch den zweiten Weltkrieg mit einer signifikant niedrigeren Schuldenquote auskam als der neoliberale Staat.
Keine Frage, die Verschuldung ist ein grundsätzlich sinnvoller Mechanismus zur Mobilisierung gesellschaftlicher Ressourcen für die Wohlstandsvermehrung. Sie kann allerdings auch, wie dies in der Geschichte oft vorgekommen ist, zu Knechtschaft und Sklaverei führen, wenn die Geldverleiher zu mächtig werden und eine Monopolposition erlangen. Die kreditfinanzierte Staatsausgabenpolitik im keynesianischen Zeitalter hatte über weite Strecken tatsächlich zur Wohlstandsvermehrung beigetragen, sie war sogar der Haupthebel zur Mobilisierung von brachliegenden Ressourcen.
Die Kreditnehmer haben mit Hilfe der öffentlichen Kredite hinreichend Wachstum generiert, die Schulden zurückbezahlt und auch zu steigendem Steueraufkommen beigetragen. Dieser produktive Geld-, Beschäftigungs- und Wachstumskreislauf sorgte in den Nachkriegsjahren dafür, dass die Schuldenquote sich in allen großen kapitalistischen Staaten über einen längeren Zeitraum zwischen 5 und 30 Prozent bewegte, und dies, obwohl gerade zu jener Zeit der Finanzbedarf des Staates angesichts der gigantischen Aufgaben zum Aufbau der zerstörten Infrastruktur wie Autobahnen, Straßen, Brücken, Eisenbahnschienen, Wasser- und Energieversorgungseinrichtungen als vergleichsweise sehr hoch unterstellt werden muss.
Dieses in sich relativ stabile Verhältnis zwischen Staatsausgaben und Staatseinnahmen geriet jedoch ins Stocken, als in den 1980er Jahren das Wachstum in den hoch entwickelten Industriestaaten an ökologische Grenzen stieß. Weitere öffentliche Kredite konnten nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen und auch kein zusätzliches Steueraufkommen generieren. Die Staatsverschuldung stieg folgerichtig am Ende der 1980er Jahre in allen kapitalistischen Staaten geringfügig an.
Vorwand Generationengerechtigkeit
Hatten neoliberale Ökonomen und Politiker den beinahe vernachlässigbaren Anstieg der Staatsverschuldung in den 1980er Jahren zum Anlass genommen, um die keynesianische Staatsausgabenpolitik frontal anzugreifen, so ebneten sie mit ihren Konzepten selbst den Weg für einen ungebremst über mehrere Jahrzehnte andauernden Anstieg der Staatsverschuldung. Tatsächlich hatte sich diese gestiegene Verschuldung des Staates als ein wirkungsvolles Instrument erwiesen, den massiven Sozialabbau – das eigentliche Ziel neoliberaler Strategie – nunmehr unter dem Vorwand „Generationengerechtigkeit“ moralisch zu rechtfertigen.
Hans Eichel, der Finanzminister der rot-grünen Bundesregierung (1999-2005), begann mit dem Slogan, die Staatsverschuldung sei das „Unsozialste“, was es überhaupt gäbe, den Sozialstaat umzukrempeln und sozialstaatliche Errungenschaften, die nach dem Krieg geschaffen worden waren, eine nach der anderen abzuschaffen. In der Tat war es mit dem Spaltungsinstrument und dem Ausspielen der jüngeren gegen die älteren Generationen möglich, die Gewerkschaften und Sozialverbände in ihrem Kampf gegen Sozialabbau moralisch zu entwaffnen und die rot-grüne Agenda-2010-Politik samt Harz-IV-Gesetzen auf der ganzen Linie durchzusetzen.
Der neue Staatspräsident Frankreichs scheint offensichtlich die deutsche Agenda-Politik des Sozialabbaus kopieren zu wollen. Denn er hat gleich nach seiner Wahl durch Senkung der Unternehmenssteuer und die dadurch verursachte Hinnahme steigender Staatsverschuldung den auch in Deutschland erfolgreich eingesetzten Mechanismus für einen flächendeckenden Sozialabbau und die Aufhebung der gesetzlichen 35-Stunden-Woche aktiviert.
Haushaltssanierung und Abbau der Staatsverschuldung unter dem Vorwand „Gerechtigkeit gegenüber der jüngeren Generation“, das ist auch in Frankreich eine wirkungsmächtige propagandistische „Waffe“, um den Widerstand vieler Franzosen gegen Macrons angebliches Modernisierungsprojekt zu brechen und Jung gegen Alt, weniger Entschlossene gegen stark Entschlossene aufzuwiegeln und zu spalten. Das moralische Potential dieser „Waffe“ ist stark genug, um einen Teil der arbeitenden Bevölkerung dazu zu bringen, letztlich sogar für Macron und gegen ihre eigenen Interessen zu handeln.
Die Konstruktion der vermeintlichen Interessensgegensätze zwischen Jung und Alt lenkt jedoch nicht nur auf hinterlistige Weise von den wahren Ursachen steigender Staatsverschuldung ab, sondern sie verschleiert auch, dass hinter der Doppelstrategie – steigende Staatsverschuldung und Sozialabbau – eine gigantische Umverteilung von Arm zu Reich stattfindet, deren Opfer sowohl ältere wie jüngere Generationen sind.
Würde man vor diesem Hintergrund zu weit gehen anzunehmen, dass die neoliberale Elite die Doppelstrategie bisher durchaus bewusst vorangetrieben hat?
Warum Schuldenbremse?
Die Regulierung der Staatsverschuldung ist grundsätzlich ein richtiger Ansatz zur Eingrenzung einer verschwenderischen öffentlichen Kreditaufnahme, genauso wie die Staatsverschuldung und die kreditfinanzierten Staatsausgaben selbst ein wirksames wirtschaftspolitisches Instrument zur Wohlstandmehrung einer Gesellschaft sein können. Ohne verbindliche Regulierung und Festlegung von Obergrenzen für die Staatsverschuldung wäre beispielsweise der jeweiligen Regierung überlassen, sich aus Eigeninteresse und zur Deckung unproduktiver Ausgaben oder zur Vergabe von Wahlgeschenken zu verschulden.
Ökonomisch wird eine Neuverschuldung auch in der Tat kontraproduktiv, sobald der dadurch entstandene Schuldendienst die durch Neuwertschöpfung erzielten zusätzlichen Steuereinnahmen übersteigt. Diese Einsicht bildet deshalb auch die Grundlage eines parteiübergreifenden Konsenses in den parlamentarisch-demokratischen Gesellschaften, die Regulierung der Staatsschulden in der Verfassung zu verankern. So wurde in der alten Fassung des Grundgesetzes im Artikel 115, Absatz 1, Satz 1, der Umgang mit der Staatsverschuldung in Anlehnung an die Weimarer Verfassung wie folgt festgelegt:
„Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten.“ Diese direkt an Investitionstätigkeiten gekoppelte Regel galt bis 1969, wurde jedoch dann durch Ausnahmen, vor allem zur „Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ geringfügig aufgeweicht. Die Kopplung der Neuverschuldung an Investitionstätigkeiten sorgte insofern tatsächlich auch für eine moderate Schuldenquote, die sich bis Mitte der 1980er Jahre auf einem niedrigen Niveau unterhalb von 30 Prozent einpendelte.
Die Neuverschuldung trug so zur Erhöhung der Wertschöpfung und Entstehung von neuem Steueraufkommen und schließlich zu ihrer eigenen Refinanzierung bei. Doch löste sich die neoliberale Wirtschaftspolitik seit Ende der 1980er Jahre von dieser Regelung und erhöhte, unter permanenter Verletzung der Verfassung in den darauf folgenden Dekaden, kontinuierlich die Staatsverschuldung, um die wachsende Haushaltslücke zu schließen.
Betrugen die Staatsschulden 1980 lediglich 239 Milliarden Euro, so waren sie 2010 auf über 2.000 Milliarden Euro, also auf beinahe das Neunfache, angestiegen. Um jedoch dem drastisch steigenden jährlichen Schuldendienst und der Belastung für die Haushaltskassen des Bundes, der Länder und Kommunen Einhalt zu gebieten, wurde eine Neuregelung der Staatsverschuldung in Deutschland, und erst recht in Ländern mit noch höheren Schuldenquoten, unerlässlich. In Deutschland wurde 2009 eine Schuldenbremse in das Grundgesetz, Artikel 109, Abs. 3, festgeschrieben.
Demnach soll die jährliche Nettokreditaufnahme 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten. Mit der Schuldenbremse soll die Staatsverschuldung in Deutschland auf die für die EU geltenden Maastrichter Kriterien von 1992 reduziert werden, wonach in den einzelnen EU-Staaten die Gesamtverschuldung 60 Prozent und das Haushaltsdefizit 3 Prozent des BIP nicht überschreiten dürfen.
Ursachen steigender Staatsverschuldung
Bei einer oberflächlichen Betrachtung erscheinen die Maastrichter Kriterien und die Schuldenbremse in der EU und in Deutschland nicht nur als unerlässlich, sondern auch als vernünftig. Das Problem dieser Regeln beginnt damit, dass im gesamten Entscheidungsprozess bei der Entstehung des Maastrichter Vertrages und der Schuldenbremse die Ursachen der dramatisch steigenden Staatsverschuldung in Deutschland, in der EU und in allen kapitalistischen Staaten so gut wie nicht berücksichtigt und diskutiert wurden. Ganz im Gegenteil haben die verantwortlichen Finanzpolitiker, Regierungen und die Medien die steigende Staatsverschuldung als solche mehr oder weniger als ein Naturereignis – wie plötzlich vom Himmel gefallen – interpretiert, das man lediglich einzudämmen hätte.
Tatsächlich sind steigende Staatsschulden seit dem Ende der 1980er Jahre nicht Folgen von übermäßigen Staatsausgaben für Investitionen im Bereich der Infrastruktur, in der Sanierung von Schulen und Universitäten, im Ausbau des Gesundheitswesens, in der Sanierung von Umwelt, in der Neueinstellung von Pflege- und Lehrkräften an Schulen und Universitäten, im Pflegebereich, in der Justiz und sonstigen Staatsinstitutionen. Das Gegenteil ist der Fall. Experten bemängeln für Deutschland einen Investitionsstau im Umfang von 300 bis 500 Milliarden Euro, weil in allen genannten Feldern gerade zu wenig oder überhaupt nicht investiert oder, mit verheerenden Folgen, sträflich gespart worden ist.
Bei einer genaueren Ursachenanalyse lässt sich allerdings klar feststellen, dass die Staatsschulden deshalb so dramatisch gestiegen sind, weil – bei enormen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen wie der deutschen Wiedervereinigung und der Bewältigung der Finanzkrise 2008 – Vermögende nicht ihrer Finanzkraft entsprechend stärker belastet wurden, sondern im Gegenteil die Staatseinahmen vor allem durch umfangreiche Steuergeschenke an die Wirtschaft und durch die Abschaffung von Vermögenssteuern für die Besitzenden massiv eingebrochen sind.
Beispielsweise führte Hans Eichel, der bereits erwähnte Finanzminister der rot-grünen Regierung, im Mai 2000 eine umfassende „Steuerreform“ durch, die unter anderem eine deutliche Senkung der Unternehmenssteuer und eine Steuerbefreiung für den Verkauf von Aktienpaketen und Tochterunternehmen enthielt. Offizielle Begründung für die Reform war die Ankurbelung der Wirtschaft. Nach der Steuerreform kam es zu einem Einbruch der Einnahmen, ohne dass dadurch die Unternehmen mehr investierten; die Investitionsrate ist sogar weiter gesunken. Hatte der Staat im Jahr 2000 insgesamt 23,6 Milliarden Euro Körperschaftsteuer von den Kapitalgesellschaften eingenommen, so brachen die Steuereinnahmen nach der Steuerreform vollkommen weg und per Saldo mussten die Finanzämter stattdessen fast eine halbe Milliarde Euro an die Firmen auszahlen.
Gleichzeitig wirkte die Aussetzung der Vermögenssteuer in dieselbe Richtung auf sinkende Staatseinnahmen und steigende Staatsverschuldung. Es war die schwarz-gelbe Regierung unter Kohl/Genscher, die ab 1997 die Erhebung der Vermögenssteuer aussetzte, woran auch die rot-grüne Regierung unter Schröder/Fischer im Jahr 1998 und die folgenden Regierungen nichts änderten. Im Jahr 1996, dem letzten Jahr ihrer Erhebung, nahmen die Bundesländer durch die Vermögensteuer 4,6 Milliarden Euro (9 Milliarden DM) ein.
Parallel stieg die Schuldenquote von 59,3 Prozent im Jahr 2002 auf 66,4 Prozent in 2005 und erreichte mit 81 Prozent in 2010 den höchsten Stand.
Die Nichterhebung der Vermögenssteuer, insbesondere auf Immobilienvermögen, ist ökonomisch nicht nur unsinnig, sondern für Wirtschaft und Gesellschaft sogar sehr verhängnisvoll und zwar im doppelten Sinne: Zum einen müssen die fehlenden Einnahmen durch neue Schulden ausgeglichen werden, das verursacht also steigenden Schuldendienst und zusätzliche Belastungen für die Haushalte. Und zum anderen fehlen sie für die Wertschöpfung kreierenden Investitionen, die ihrerseits zu neuem Steueraufkommen und sinkender Staatsverschuldung führen können.
Wenn dennoch über die eigentliche Ursache steigender Staatsverschuldung hinweggesehen wurde, so mag es daran gelegen haben, dass es den neoliberalen Eliten gelungen ist, die Senkung der Unternehmens- und die Nichterhebung der Vermögenssteuer als „heilig“ zu tabuisieren und jedwede Kritik daran als unsinnig zu verdammen.
Schuldenbremse und die „Schwarze Null“
Wenn also zur Begrenzung anwachsender Staatsschulden die Erhöhung von Staatseinnahmen durch Vermögens- und Körperschaftssteuern zum Tabu erklärt und von vornherein ausgeschlossen wird, diese Alternative also überhaupt nicht in Erwägung gezogen wird, dann bleiben für die Eindämmung bzw. Senkung der Staatsschulden zwei Alternativen übrig: erstens die Staatsausgaben und allen voran die Sozialausgaben einzufrieren bzw. zu senken und zweitens den Staat zum Ausverkauf öffentlicher Güter zu drängen. Die Verankerung der Schuldenbremse in der Verfassung hätte demnach nur eine moralische Legitimation, wenn gleichzeitig auch eine angemessene oder gar progressive Besteuerung aller Einkommensbezieher zu einem verfassungsmäßigen Auftrag der Regierungen erhoben worden wäre. Schuldenbremse und Regulierung gesicherter Staatseinnahmen durch angemessene Besteuerung auch der Reichen gehören eigentlich zusammen.
Anderenfalls verwandelt sich die Schuldenbremse unweigerlich zu einem verfassungsmäßig legitimierten Instrument des Sozialabbaus und der Privatisierung öffentlicher Güter.
Tatsächlich wurden die Schuldenbremse und insgesamt auch die Maastrichter Kriterien zu einem verfassungsmäßig abgesicherten Automatismus zum Sozialabbau und zum Ausverkauf des öffentlichen Vermögens.
Die systematische Entkernung der hart erkämpften sozialen Sicherungssysteme – wie die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Verwandlung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe in repressive Hartz-IV-Regeln, die Befristung von Arbeitsverträgen, die Schaffung eines Niedriglohnsektors und eines Leiharbeitssystems und viele andere teuflische Ausbeutungs- und Präkarisierungsmethoden – ist symptomatisch für eine moralisch verwerfliche Politik, die nun mit der „Schuldenbremse“ in einen verfassungsmäßig legitimierten Automatismus gegossen wurde.
Ähnliches gilt auch für den Automatismus, der – mit der Verfassung im Rücken – die Privatisierung öffentlicher Güter, wie die Gesundheits- und Wasserversorgung und den Ausverkauf von kommunalen Wohnungen, vorantreibt. Letzterer ist zweifellos einer der Hauptursachen der bundesweit steigenden Mieten und Bodenpreise zu Lasten der Lohn- und Gehaltsabhängigen und der unteren Mittelschichten.
Fortan wird gesellschaftliches Ringen um Staatsausgaben und Verteilungsfragen mehr oder weniger überflüssig und die Funktionen der Demokratie auf der Suche nach der optimalen Gestaltung der Sozialsysteme und Tätigkeiten im öffentlichen Sektor wirkungslos. Die Schuldenbremse reguliert auf der gesellschaftlichen Einbahnstraße sämtliche finanzpolitischen Handlungen der Regierungen, wobei es dann auch völlig irrelevant wird, wer regiert oder wer den Finanzminister stellt, ob ein Peter Altmaier von der CDU oder ein Olaf Scholz von der SPD.
Die von Wolfgang Schäuble längst auf die finanzpolitischen Gleise gestellte Schwarze Null reduziert ohnehin den finanzpolitischen Spielraum auf ein denkbar kleines Maß, das so gut wie keinen Spielraum für wirkungsvolle und grundlegende Reformen zur Verbesserung der sozialen Lage und zur Ausdehnung wertvoller öffentlichen Aufgaben der von Armut bedrohten Rentner, der allein erziehenden Mütter und Väter, der Hartz-IV-Empfänger, letztlich der insgesamt 40 Prozent benachteiligten Teile der Bevölkerung, zulässt.
So können auch wesentliche Unterschiede zwischen den Unionsparteien und der SPD schwerlich wahrnehmbar zu Tage treten. Das erklärt auch, warum die Union bei der Aufteilung von Ministerien das Finanzministerium der SPD überließ. In der öffentlichen Wahrnehmung erschien dieser Akt als großes Zugeständnis der Union, während die SPD ihn als ihren großen Sieg und Beleg ihrer cleveren Verhandlungstaktik feierte. In Wahrheit ist die Funktion des Finanzministers in der großen Koalition austauschbar.
Olaf Scholz selbst gibt das nicht nur offen zu, er lässt sogar keine Gelegenheit aus, um sich zu Schäubles Schwarzer Null zu bekennen. Er will von dieser Linie, wie die Frankfurter Rundschau vom 23. April 2018 vermerkte, keinen Cent abweichen. Als er bei seinem Aufenthalt in Washington gefragt wurde, ob er den Unterschied zu seinem Vorgänger erläutern könne, antwortete er „Nein“. Kein Wunder, dass manch einer Olaf Scholz als „Schäuble 2“ oder „Schäubles Klon“ tituliert.
Die Austauschbarkeit der Zuständigkeiten für diesen Bereich ist eher der manifeste Ausdruck des längst verfassungsmäßig verankerten Automatismus durch die Schuldenbremse und deren deutsche Machart – die Schwarze Null.
Allen Bekundungen der SPD-Führung zum Trotz, sich innerhalb der großen Koalition als eine von der Union unterscheidbare und eigenständige politische Kraft darstellen zu wollen, wird sie sich in der Praxis mit jenen im Koalitionsvertrag vereinbarten kleinen Reförmchen zu Gunsten ihrer Klientel begnügen müssen, die auch durchaus die Union mit Leichtigkeit als ihr Werk verkaufen kann. Beispielsweise wird der tatsächliche Bedarf an Pflegekräften durch Experten auf mehrere Zehntausend Personen veranschlagt. Im Koalitionsvertrag sind dafür jedoch lediglich 8.000 Neueinstellungen vorgesehen – das sind also 0,6 Stellen pro Pflegeeinrichtung – buchstäblich also ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die Politik von „weiter so“ ist unter dem Regime von Schuldenbremse und Schwarzer Null somit vorprogrammiert. Skandalös erscheint allerdings, dass die SPD sich nicht unter massivem politischen Druck, sondern ganz freiwillig auf das von Schäuble vorfabrizierte Finanzkorsett eingelassen hat. Die Einigung auf die Schwarze Null fand gleich am ersten Tag der Sondierungsverhandlungen zwischen SPD und Unionsparteien ohne irgendwelche Debatten und Problematisierungen, sozusagen als längst unantastbar festgelegt, statt.
Es ist absehbar, dass die wenigen Milliarden, die die große Koalition für soziale Reformen in der laufenden Legislaturperiode zur Verfügung hat, nicht reichen werden, um die prekäre Lage von über 12,5 Millionen als arm geltenden Menschen in Deutschland spürbar zu verbessern. Damit ist für die AfD der Weg frei, die weiterhin bestehende soziale Schieflage gegen Flüchtlinge zu instrumentalisieren und durch Aufwiegelung aller sozial Benachteiligten gegeneinander ihre eigene Basis und den rechten Rand der Gesellschaft noch einmal zu Lasten vor allem der SPD auszubauen.
Gesellschaftliche Folgen
Die Schuldenbremse, so wie sie als ein in der Verfassung verankerter Automatismus zum Sozialabbau und zur Privatisierung in Deutschland und in der EU konstruiert wurde, dürfte den aus zahlreichen Ungleichheiten bestehenden gesellschaftlichen Zustand verschärfen. Vor allen Dingen lässt der Automatismus zum Sozialabbau die konservativen und sozialdemokratischen Parteien noch stärker als bisher inhaltlich aneinander rücken.
Schrumpfendes Terrain für echte Auseinandersetzungen um die Zukunft der Arbeit, um die faire Verteilung des Reichtums und des Wohlfahrtstaates macht im Konkurrenzkampf der beiden Volksparteien den Platz frei, sich ausschließlich durch Scheingefechte bei technologischem Strukturwandel, wie beispielsweise der Digitalisierung, oder durch symbolische Debatten wie um die Begrenzung der Zusammenführung der Familienangehörigen der Flüchtlinge, zu profilieren. Der für die Digitalisierung steigende Bedarf an Investitionen würde dann den Koalitionspartnern den Vorwand dafür liefern, ihr vorprogrammiertes Versagen bei sozialen Reformen zu rechtfertigen.
Erinnern wir uns: Der massive Sozialabbau Anfang dieses Jahrhunderts wurde unisono mit dem Argument begründet, die Arbeitskosten zur steigenden Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft im Globalisierungsprozess reduzieren zu müssen. Diese Hypes, also zunächst die Globalisierung und nun die Digitalisierung, übernehmen offensichtlich die Funktion, die Zurückdrängung der offenen Auseinandersetzungen um die Verteilung des Reichtums – immerhin der soziale Kern der Demokratie im Kapitalismus – zuzuschütten.
Durch den schleichenden und aus dem Bewusstsein verdrängten und unbemerkten Demokratieabbau kristallisiert und verfestigt sich der Populismus als eine selbstverständliche Komponente im politischen System.
Wenn dann klar wird, dass sich die Koalitionsparteien für den Sozialabbau auch noch auf das Faktum Schuldenbremse, also auf die Verfassung berufen können, so ist dem steigenden Misstrauen der Benachteiligten auch gegen die Verfassung Tür und Tor geöffnet.
Die bisherigen Erfahrungen auf EU-Ebene haben das bereits eindrucksvoll vorexerziert. Im Falle von Griechenlands Schuldenkrise zwangen die EU-Finanzminister unter der Führung von Wolfgang Schäuble die Griechen, entgegen ihrer eigenen demokratischen Entscheidung, eine Politik der sozialen Ausblutung hinzunehmen. Dies geschah, indem man sich auf den durch die Maastricht-Kriterien festgelegten Automatismus zu Ausgabensenkungen berief, den Schäuble im Griechenlandkonflikt tagein tagaus wiederholte. Schließlich müsse man die Regeln, die beschlossen worden sind, einhalten.
Gleichzeitig waren so auch die Plünderungen des griechischen Staatsvermögens (Flughäfen, Hafenanlagen et cetera) gerechtfertigt. Das war der größte Anschlag auf ein soziales und demokratisches Europa und umgekehrt ein handfester Grund für wachsendes Misstrauen gegen das Projekt Europa insgesamt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Dieser Beitrag stützt sich analytisch und empirisch auf eine umfassende Untersuchung des Autors, die er in seinem Buch „Braucht die Welt den Finanzsektor“ entwickelt hat, das Ende 2017 im Hamburger VSA-Verlag, erschienen ist.