Zum Inhalt:
100 Jahre Konterrevolution

100 Jahre Konterrevolution

Eine Replik auf Arno Widmanns Mordphantasien zur Oktoberrevolution in der Frankfurter Rundschau.

Mit einer – seine eigene Reputation gefährdenden – Darstellung der „sowjetischen Erfahrungen“ mit der Oktoberrevolution, die nicht die Seinen sein können, denn er ist Jahrgang 1946, zeichnete der angesehene Arno Widmann ein extrem antikommunistisches Zerrbild dieses Ereignisses und seiner Geschichte, das nicht verdient, als Analyse bezeichnet zu werden. Man darf sagen, er vergisst sich, als ob er den Kalten Krieg noch einmal gewinnen wollte und den totalen Sieg des Kapitalismus noch einmal in vollen Zügen auszukosten versucht hätte. Solche und ähnliche Schreckensbilder habe ich noch aus den Zeiten des Kalten Krieges in lebhafter Erinnerung. Rückblätternd wird man jedoch nur wenige Beispiele aus den kältesten Phasen dieses im Namen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung von Partei- und Berufsverboten begleiteten öffentlichen Meinungsterrors finden, in denen namhafte westliche Journalisten ihren guten Ruf mit einer derart platten – als Kritik ausgegebenen – Polemik aufs Spiel gesetzt hätten. Denn auch im Kalten Krieg wurden die Gedenktage an die Oktoberrevolution dazu missbraucht, von den Verbrechen des Kapitalismus abzulenken.

Was Arno Widmann zum Hundertsten Jahrestag geliefert hat, ist keine, auch keine missglückte, Kritik, das ist Leichenfledderei. Ein derart konfuses und abstruses Zerrbild von einem weltgeschichtlich höchst bedeutsamen und für fast alle Länder der Welt folgenschweren Ereignis zu zeichnen, es dazu der Öffentlichkeit auch noch wie ein Dekret zu präsentieren, ist selbst für einen dezidiert demokratischen Sozialisten, den dogmatische Kommunisten immer als Klassenfeind betrachteten, nicht widerspruchslos hinnehmbar. Völlig absurd an Widmanns Darstellung der Oktoberrevolution ist, dass er ausgerechnet die Methode anwendet, die er mit Recht Propagandisten des Sowjetkommunismus vorwerfen könnte. Er bedient sich offizieller und inoffizieller Berichte, aber auch Leidensgeschichten von Opfern und Gegnern dieser Revolution, um den Eindruck zu erzeugen, die russischen Revolutionäre hätten nie etwas Anderes gewollt und vollbracht, als Konzentrationslager einzurichten und Massenmorde zu begehen.

Wäre es nicht redlicher gewesen, wenigstens auch einige Andeutungen zu den Siegen der Kommunisten über das vom Zarismus repräsentierte finstere russische Mittelalter, über die Ausschaltung der russischen Kriegstreiber des Jahres 1917 und über die von Hitler kommandierte deutsche Wehrmacht zu machen? Kritisch, versteht sich. Lieber macht sich Widmann über diejenigen Kommunisten lustig, die sich im nahezu aussichtslosen Kampf gegen den mörderischen Imperialismus der Kapitalstrategen mit dem Slogan Mut machten, von der Sowjetunion lernen, hieße siegen lernen. Widmann zeichnet ein Bild von der Oktoberrevolution, auf dem außer Massenmorden von Kommunisten nichts zu sehen ist. Derartige „Sündenregister“ wurden schon vor Gründung der Bundesrepublik von den Kalten Kriegern (vielen bewährten Altnazis) den Bevölkerungen der Westzonen, auch von Kanzeln, vorgelesen, um Wähler davor zu warnen, SPD zu wählen. Dazu dienten auch das KPD-Verbot und der Radikalenerlass. Widmanns Artikel liest sich, als wolle er das jüngste Gerichtsurteil über das Berufsverbot Sylvia Gingolds noch einmal aus seiner Sicht begründen. Ungewollt (oder gewollt?) lenkt Widmanns Darstellung der Oktoberrevolution aber auch von den Verbrechen der konterrevolutionären Kapitalstrategen nicht nur des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern auch der gegenwärtigen, ab. Vielleicht will er sogar vergessen machen, weshalb es überhaupt zur Oktoberrevolution gekommen ist.

Ein Beispiel: Ganz im Geist der im Kalten Krieg stark verfälschten, von Hannah Arendt entwickelten Totalitarismustheorie, setzt Widmann Stalins Sowjetunion, Hitlers Deutschland und Maos China kurzerhand gleich. Er tut dies, indem er feststellt, dass Konzentrationslager und Massenmorde „keine sowjetische Spezialität“ gewesen seien. Doch dazu sagt er, Objektivität suggerierend, dass noch darüber gestritten werde, welches der drei Systeme den Rekord in Sachen Massenmord hält. Er schreibt das so, dass jeder weiß: Diese Frage ist für ihn geklärt. Kein Wort über die Massenmorde und das Massensterben durch Kriege, Krisen, Krankheiten und Kriminalisierungen des im Schoße des Feudalismus heranwachsenden, dann total wirtschaftsliberalen, zwischendrin faschistischen, schließlich freiheitlich-demokratischen Kapitalismus. Kein Wort über Kommunistenjagden und Kommunistenprozesse, keines über das Sozialistengesetz Bismarcks, nicht einmal eines zur „Ausmerzung“ von Juden und mit diesen gleichgesetzten Sozialdemokraten und Kommunisten durch Hitlers Schergen und die ihn unterstützenden „Verteidiger“ der Freiheit des Kapitals. Kein Wort über die Hungerkatastrophen in der Welt, die auf die „Freiheit“ der Konzernstrategen zurückzuführen sind.

Wenn Jean Ziegler oder die „Ordensleute für den Frieden“ nicht müde werden, daran zu erinnern, dass Kinder, die heute verhungern, zwar nicht im juristischen, aber im moralischen Sinne vom System des Kapitalismus ermordet werden, ist das ja nur einer von sehr vielen Gründen, auf die Massenmorde der Beutejäger des Kapitals und ihrer Propagandisten hinzuweisen und diesen anzulasten. Denkt denn Widmann, wenn der Kapitalismus von seinen Anfängen bis heute über Abermillionen Leichen gegangen ist, das seien verzeihliche, weil unvermeidliche Kollateralschäden, wie sie nun einmal beim unaufhaltsamen Siegeszug des freiheitlich-demokratischen Kapitalismus und beim Kampf gegen „wirtschaftsfeindliche“ Sozialisten und Kommunisten hingenommen werden müssten? Sind denn nicht die meisten Feinde der kapitalistischen Weltordnungspolitik, die wir unreflektiert als „Täter“ verteufeln, nicht vorher Opfer der imperialistischen, heute verharmlosend als Globalisierung bezeichneten Kapitalbeschaffung, Kapitalverwertung und Kapitalsicherung entfesselter Ausbeuter gewesen?

Viele Intellektuelle, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen kritisieren heute die total globalisierte Ausbeutungswirtschaft mit ihren mörderischen Kriegen, mit Massenflucht und Terror auslösenden Folgen unter den allzu harmlosen Begriffen wie Neoliberalismus oder Finanzkapitalismus. Damit wird aber suggeriert, der historische Wirtschaftsliberalismus, der frühere Handels- und spätere Industriekapitalismus wäre, ungeachtet dessen, ob wir ihn mit den Medici, mit Calvin oder Adam Smith beginnen lassen, auch nur eine Spur humaner gewesen. Dass jedoch Widmann das Blutbad, das dieser friedliche finanzkapitalistische Neoliberalismus weltweit verursacht, nicht einmal andeutet, interpretiere ich meinerseits als Versuch, mit der provokativ zugespitzten These, die Oktoberrevolution sei nichts weiter als „ein Verbrechen gegen die Menschheit“ gewesen, von den historischen und aktuellen Verbrechen derer abzulenken, die im Namen Gottes, der Eigentumsfreiheit und des Profits begangen werden. Wer aber den entpolitisierten und unwissenden jungen Menschen wissentlich ein Zerrbild über verzweifelte Versuche, sich aus dem überproduktiven Vernichtungslagern der kapitalistischen Demokratien zu befreien, vermittelt, verhindert die überlebenswichtig gewordene rationale Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Geschichte des Kapitalismus.

Zu diesem Zweck löst Widmann die Geschichte der Oktoberrevolution hemmungslos in Geschichten, Episoden sowie äußerst subjektive und parteiische Zeitzeugenerzählungen auf. Er verschweigt wesentliche Zusammenhänge. Mit wenigen ausgewählten Ereignissen, insbesondere von Gegnern und Verfolgten dieser Revolution überlieferten Erlebnissen, will er seine eigene – ich meine, wider besseres Wissen vertretene – Behauptung untermauern, das ganze Projekt Oktoberrevolution habe nicht das Geringste mit Sozialismus zu tun gehabt. Es sei „zu keinem Zeitpunkt“ ein Versuch gewesen, „eine menschlichere Alternative zu ‚Imperialismus und Krieg’ aufzubauen.“ Sie habe Imperialismus und Krieg bedeutet. Sie sei auch „kein Aufbruch in eine freiere Welt“, sondern – von Anfang an und in fast jeder ihrer Phasen – „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gewesen.

Zwingen diese steilen Thesen nicht zu der wirklich ernsten Frage, ob für Widmann auch der „Große Vaterländische Krieg“, der ein Verteidigungskrieg gegen den Hitler-Faschismus war und dem in letzter Instanz nicht nur Deutschland seine heutige Freiheit verdankt, auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen ist? Dann wäre ja die Beteiligung der Westalliierten ebenfalls ein Verbrechen, zumindest eine Mittäterschaft an diesem Verbrechen gewesen. Ebenso die Verurteilung und Hinrichtung von Nazis nach ihrer Niederlage. Und wie muss man aus Widmanns Sicht die materielle, ideologische und militärische Unterstützung der Befreiungsbewegungen in Drittweltländern durch die Ostblockstaaten und die Rotchinesen bewerten, die sich gegen die vom freiheitsliebenden Westen unterstützten Diktatoren, darunter viele Massenmörder, die in USA und Europa studiert hatten, zur Wehr setzten? Will Widmann die Geschichte der Neuzeit wirklich noch einmal umschreiben? Wozu soll das gut sein? Das möchten sicher viele von ihm wissen, vielleicht sogar Leute, die seine Ansichten teilen.

Dass Kriege grundsätzlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, wer wollte das ernsthaft bestreiten? Aber jeder, der heute lebt, muss doch die Frage stellen dürfen, was aus uns Europäern, aus der Welt geworden wäre, wenn die damals wie heute rassistischen und antikommunistischen USA nicht den Massenmörder Stalin, sondern den Massenmörder Hitler im Kampf gegen Kommunisten, Juden und sonstige „Untermenschen“ unterstützt hätten? Warum haben sie Stalin unterstützt? Das sind Fragen, die besonders zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution hätten gestellt und beantwortet werden müssen. Fragen zur Dialektik der Weltgeschichte. Statt sie zur Diskussion zu stellen, übte Widmann in einer seine eigene Intelligenz beleidigenden Weise an mehreren Stellen sogar eine „Revolutionskritik“, die gar keine ist, sondern mühelos durch den Austausch einiger Namen und der Zeit, auch auf die Politik der CDU/CSU angewendet werden könnte. So klagt er, die Bolschewiki hätten, weil sie um jeden Preis an der Macht bleiben wollten, die herrschende Not „deutlich verstärkt“. Hat Franz-Josef Strauß mit seinem Milliardenkredit an die DDR nicht die SED-Diktatur verlängert und damit die Not derer verstärkt, die unter dieser Diktatur zu leiden hatten? Verstärken kapitalfromme Parteien nicht die Not in der Welt, wenn sie zum Wohl der Investoren Sozialrechte streichen?

Lieber Herr Widmann, ihr Essay ist kein Beitrag zur Aufklärung der Rundschau-Konsumenten über die Bedeutung der Oktoberrevolution gewesen. Das werden Sie mit gewonnenem Abstand und zu erwartender Bereitschaft zur Selbstkritik hoffentlich irgendwann einmal zugeben. Er gehört eigentlich in die Schublade des Desorientierungsjournalismus, der Gegenaufklärung, der Ablenkung. Ja, er ist auch eine verräterische Verharmlosung ihrer eigenen These. Die Art, wie Sie den offiziellen Legenden der KPdSU und der ihr hinterher trauernden Stalinistengemeinde einige ausgewählte Erlebnisse, einige inoffizielle Legenden und das Pauschalurteil eines nachtretenden Kalten Kriegers und Siegers entgegensetzen, ist nämlich Wasser auf die Mühlen all derer, die sie belehren möchten, die nichts aus dieser Revolution gelernt haben.

Hat Arno Widmann die Oktoberrevolution vielleicht selbst nicht begriffen? Ich kann das nicht glauben. Trotzdem liest sich sein Beitrag wie ein Produkt jener blinden antikommunistischen Wut, die der bürgerliche Thomas Mann schon sehr früh als die Grundtorheit des 20. Jahrhunderts erkannt und kritisiert hat. Widmanns Tiraden erinnern jedenfalls lebhaft an Gerhard Löwenthal, der fast zwei Jahrzehnte lang im „ZDF-Magazin“ zu Recht – meist nicht zu widerlegende - Menschenrechtsverletzungen der SED extrem polemisch anprangerte. In dieser Verbohrt- und Verbissenheit übersah er nicht nur Verbrechen der westlichen Freiheits- und Demokratieverteidiger im eigenen unmittelbaren Wirkungsbereich und in Drittweltländern, sondern verteufelte – ganz im Geist der „christlichen“ Demokraten Strauß, Dregger, Kanther und Kohl – auch die angeblich moskaugesteuerte und der SED-Diktatur in die Hände spielende Ostpolitik Willy Brandts. Nachweislich ebnete jedoch Willy Brandts neue Ostpolitik den Weg zur Wiedervereinigung. Daran ändert auch nichts, dass Brandts Intimfeind, „Bimbeskanzler“ Helmut Kohl, sich später den Lorbeerkranz, den Brandt verdient hatte, selbst aufsetzte.

Mit Blick auf die welthistorischen Entwicklungen bis zur relativ friedlichen Auflösung der UdSSR, waren schon 1989 nicht nur Löwenthals und Kohls Politik zum Scheitern verurteilt, die Oktoberrevolution auf die zweifellos fürchterlichen Leidensgeschichten ihrer Gegner und Opfer zu verkürzen. Es gibt nun einmal historische Beweise, dass das Kapital, auch wenn ihm viele Menschen eine ungeheure Warenfülle und andere Werte verdanken, dennoch die Hauptverantwortung für das Unheil des 19. und 20. Jahrhunderts trägt. Die Verbrechen des Kapitals wegzuzaubern, sie hinter primitiv einseitigen antikommunistischen Darstellungen der Oktoberrevolution, ihren Ursachen, Geschehnissen und Folgen kurzerhand verschwinden zu lassen, ist nicht die originäre Aufgabe eines Journalisten. Auch nicht im postfaktischen Zeitalter. Ich bin gespannt, wie und ob die Fachwelt auf diese Geschichtsklitterung reagiert. Widmanns Zauberei simuliert eine Stimmung, als wäre der Kalte Krieg noch in vollem Gange. Er fasst eine Auswahl grauenhafter Ereignisse der Oktoberrevolution – weitgehend zutreffend – zusammen, aber er erweckt trotz kurzer Erwähnung Hitlers den vollkommen falschen Eindruck, als wären GULAG, Schauprozesse und Massenmorde das einzige und eigentliche Ziel der kommunistischen beziehungsweise leninistischen Revolution gewesen.

Glaubt Widmann oder will er andere glauben machen, die christlich-kapitalistischen Revolutionen wie die englische unter Cromwell, die amerikanische der sich vom Mutterland emanzipierenden britischen Kolonialisten und Sklavenhalter und die französische unter dem Saubermann Robbespiere, dem korrupten Danton und dem selbsternannten Kaiser, dem Militaristen Napoleon, seien friedliche Kindergeburtstage gewesen? Und genau wie die Oktoberrevolution waren auch die bürgerlichen Revolutionen zu Beginn keine Massenbewegungen. Wie viele Leute haben 1789 die Bastille gestürmt? Und warum wirft Widmann den Bolschewiki – wenn auch nur indirekt – vor, dass die Massen der russischen Bevölkerung 1917 in ihrer Mehrheit keine Anhänger der kommunistischen Revolutionäre, sondern des reaktionären Zaren waren? Weiß er nicht, dass die britische und französische Bourgeoisie, die von Päpsten, Kirchenfürsten und Pfarrern kontrollierten und in Unmündigkeit gehaltenen analphabetischen Bauern, Dorfhandwerker, Tagelöhner, vor allem deren Kinder und Frauen, mit fürchterlichsten Maßnahmen zu ihrem proletarischen Glück der Ausbeutung durch Lohnarbeit zwingen mussten?

Welche Maßnahmen das waren? Vor allem sie in Arbeitslosigkeit und in unterbezahlten Arbeitsverhältnissen hungern oder auch verhungern zu lassen. Und wo das nicht half, half Polizeigewalt. Weiß Widmann nicht, dass das in weiten Teilen der Welt auch nach dem totalen Sieg über den Kommunismus noch immer der Fall ist? Nein, nicht nur im noch jungen russischen und chinesischen Staatskapitalismus. Weiß er nicht, dass sogar in entwickelten kapitalistischen Demokratien ein organisierter Rückbau in Richtung Manchesterkapitalismus stattfindet? Und wo er noch nicht abgeschlossen ist, zumindest droht? Und muss man nicht auch fragen, was das für ein Verbrechen ist, dass Kommunisten die Massen der russischen Analphabeten, die an ihrem Zar hingen wie die Katholiken zu Luthers Zeiten und heute noch an ihrem Papst, erst einmal die ganz normalen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Grundrechnen beibrachten, um deren Anschlussfähigkeit an das Industrieproletariat des in städtischen Ballungsräumen schon weit fortgeschrittenen Kapitalismus herzustellen? Dass weltweit die Zahl der Analphabeten wieder wächst, hat zweifellos mit dem Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus zu tun.

Dass einige intellektuelle Scharfmacher des antikommunistischen Lagers solche zwar schlichten, aber wichtigen Tatsachen absichtlich übersehen, ist nicht neu. Schon 1927 erschien in deutscher Sprache ein Buch des britischen Journalisten Arthur Shadwell mit dem prophetisch klingenden Titel „Der Zusammenbruch des Sozialismus“. Darin zieht Shadwell die anfangs auch von Lenin selbst unterschätzte Bedeutung der innergesellschaftlichen Ungleichzeitigkeit des Bewusstseins der Massen als Beweis dafür heran, dass der „Sozialismus“ schon gleich nach der Revolution zusammengebrochen sei. Dies, wohlgemerkt, obwohl es außer dem Dekret Lenins, dass Grund und Boden zum Allgemeingut, also zum Eigentum derer werden, die ihn zuvor für die Großgrundbesitzer, einschließlich der Zarenfamilie, bearbeiteten, keinen wirtschaftlichen Sozialismus gab. Der Journalist Shadwell stellte jedoch Lenins grundehrliches Eingeständnis, sich den Übergang zu einer sozialistischen Wirtschaftsordnung einfacher vorgestellt zu haben, voreilig und hoch erfreut als „Zusammenbruch des Sozialismus“ dar. Bekanntlich hat aber Lenin mit seiner Neuen Ökonomischen Politik, einem kommunistisch geführten Staatskapitalismus, (weniger weitgehend als der derzeit chinesische) diesen Zusammenbruch verhindert. Auch darüber verliert Arno Widmann, der bei anderen Themen die feinsten Unterscheidungen wichtig nimmt, kein Wort.

Er verliert auch keine Silbe darüber, dass neben dem Bürgerkrieg fast die ganze kapitalistische Welt gegen die junge UdSSR Interventionskriege führte, dass schon bald nach deren Ende Hitlers Feldzug der verbrannten Erde mit der deutschen Wehrmacht die langfristige Entwicklung unterbrach, die Lenin sich für sein riesiges Russland vorgestellt hatte. Nicht geduldig mit Wirtschaftsembargos, sondern im Zeitraffertempo mit Kanonen, Panzern und Bombern. Aber Stalin siegte. Obwohl er unfassbare Verbrechen zu verantworten, wahrscheinlich sogar mehr Kommunisten als Kapitalisten auf dem Gewissen hat, wird er dennoch – oder deshalb? – sehr wahrscheinlich eines nicht allzu fernen Tages als der wahre Held der russischen Revolution gefeiert werden. Seine rabiate – von Trotzky abgelehnte – Industrialisierungspolitik war es nämlich, die letztendlich das riesige Russland vor seiner Eroberung, Vernichtung und Versklavung durch die Herrenmenschen des „arischen“ Hitlerdeutschland bewahrte.

Und noch eine von Widmann verschwiegene Kleinigkeit, die im Interesse kritischer Aufklärung von großer Bedeutung ist: Auch im freiheitsliebenden England und Frankreich sind Staats-Oberhäupter geköpft worden. Sogar der Sklavenbefreier Abraham Lincoln wurde ermordet. Zudem haben die freiheitsliebenden bürgerlichen Revolutionäre die Kolonien der enthaupteten Feudalherrn nicht in souveräne Nationalstaaten umgewandelt, wie die Menschen in den Kolonien es nach den Freiheits- und Menschenrechtsparolen der kapitalistischen Revolutionäre erwarten durften. Stattdessen haben sie die kolonisierten Völker mittels blutrünstiger Massaker weiterhin in Abhängigkeit gehalten. Tahiti ist nur eines von vielen Beispielen. Was weder Marx noch Lenin ahnen konnten, dass es den kapitalistischen Demokratien jemals gelingen würde, die Menschen der „Dritten Welt“ in die Rolle des Proletariats zu manövrieren und das eigene klassenbewusste Proletariat, seine Parteien und Gewerkschaften zu kapitalfrommen „Sozialpartnern“ umzuerziehen.

Ich frage mich, ob es Verbrechen waren, als die staatssozialistischen Diktaturen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als „Ostblock“ auftraten und stark genug waren, Drittweltländern zu helfen, ihre Despoten zu stürzen. Denn es waren westliche Kapitalgesellschaften, die vielen antikommunistischen Despoten an die Macht verholfen hatten und ihnen mit „Entwicklungshilfe“ beistanden. Mit Hilfe kommunistischer Staaten konnten Kolonialvölker, die nach dem Ende des europäischen Feudalismus nun nicht merkantilistisch für europäische Fürstenhäuser, sondern kapitalistisch von der Bourgeoisie für die Bourgeoisie ausgeraubt wurden, zumindest erst einmal ihre eigenstaatlichen Souveränitätsansprüche, wenn auch nicht ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit durchsetzen. Ich möchte schon gern wissen, ob diese Unterstützung der Befreiungsbewegungen durch die Ostblockstaaten zu deren Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehört. Damals schon flohen – wie heute – Millionen vor den katastrophalen Folgen kapitalistischer Ausbeutung, vor westlicher Militär- und „Entwicklungshilfe“. Sie flüchteten vor den Massakern, die von westlichen Demokratien und Konzernchefs gestützte und geschützte Diktatoren in den ehemaligen Kolonien und inzwischen zu Rohstofflieferanten degradierten Ländern des peripheren Kapitalismus anrichten. Wer wollte bestreiten, dass in diesen Befreiungskämpfen auch Kommunisten nicht nur Fehler gemacht, sondern auch schwere Verbrechen begangen haben.

Die Völkerwanderungen unserer Gegenwart erinnern an die Verbrechen des Kapitals. Wenn die Ausgeplünderten, die Verlierer, die Besiegten aus ihren verarmten, kriegszerstörten und obendrein vom Klimawandel bedrohten – darf man sagen „Heimatländern“? – fliehen, aber kaum noch einen Staat finden, der ihnen eine zweite „Heimat“ zu bieten vermag, weil auch in den reichen kapitalistischen Demokratien Armut und damit Fremdenfeindlichkeit zunehmen, werden künftig weit größere Massen von Menschen in Zeltstätten der Wüsten, die niemand als GULAG bezeichnet, erkranken und verhungern, in Meeren ertrinken, in Auffang- und Abschiebelagern sowie Notunterkünften verkommen und kriminalisiert werden. Es wird und kann sich aber nichts ändern, wenn diejenigen, die von den flüchtenden Opfern der überlegenen kapitalistischen Demokratien, die auch ihre Opfer sind, zwar die strikte Einhaltung der Menschenrechte und ihrer Gesetze fordern und sie faktisch zu Untermenschen degradieren, aber nicht annähernd vergleichbar die Einhaltung der Gesetze seitens der Konzerne fordern und durchzusetzen versuchen.

Diese Grundhaltung, die davon lebt, dass sie Ursache und Wirkung verwechselt, ebnet dem Terrorismus den Weg. Georg Büchner hätte zu Widmanns Polemik, die diese Probleme mit einer alle Kausalbeziehungen ignorierenden Darstellung der Oktoberrevolution verdreht, sicher gesagt: Die Ursache verklagt ihre Wirkung. Keiner, der sich mit der Geschichte der UdSSR ernsthaft befasste, hat je bestritten, dass ihr Sozialismus eine sozialistische Entwicklungsdiktatur war, die auch vor terroristischen Methoden nicht zurückschreckte. Ich vermute, dass Widmann auch die brillante Studie des Marburger Soziologen Werner Hofmann über den Stalinismus kennt. In ihr analysiert Hofmann die Geschichte der UdSSR kritisch, aber sachlich und fachlich richtig. Der deutsche Faschismus, vor allem der zweite Weltkrieg, den bekanntlich nicht die UdSSR angezettelt hat, hat diese Entwicklungsdiktatur beendet und ihre ersten Ergebnisse vernichtet. Danach, während des Kalten Krieges, wurde der UdSSR vom freien Westen zusätzlich zu der Embargopolitik und der Hallstein-Doktrin ein Rüstungswettlauf aufgezwungen, der es ihr unmöglich machte, ihre inneren Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu überwinden.

Jeder Journalist – auch Arno Widmann – weiß das. Und er weiß auch, was Hitler, der die Slavenvölker vom Kommunismus befreien wollte, mit diesen aus seiner Sicht geborenen „Sklaven“ vorhatte? Daran muss Putin die Russen nicht erinnern. Allerdings wollte Hitler garantiert nicht, dass durch seinen Überfall auf die UdSSR aus dem Vielvölkerstaat erst die Sowjetunion wurde. Anders wäre der Krieg verloren gewesen. Weil alle wussten, was den slavischen Völkern nach einem Sieg Hitlers „blühen“ würde, konnten die revolutionären Kommunisten den zaristischen Vielvölkerstaat zu jener – wenn auch kriegskommunistischen – Nation vereinigen, von der Stalin bis dahin nur geträumt haben mochte. Doch die Kapitalstrategen des freien Westens haben im Kalten Krieg Milliarden investiert und gigantische Propagandaapparate aufgebaut, um die inneren Widersprüche des als Folge dieses Krieges entstandenen Ostblocks so zu verschärfen, dass sie bis heute nachwirken. Nationalismus, Religionstraditionen und die ungleichen wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine internationalistische sozialistische Politik haben – unterstützt von westlichen Medien, dem Vatikan, den Kirchen, Geheimdiensten und der NATO – im Kalten Krieg keine Möglichkeit ausgelassen, dass ihre frohe Botschaft „Antikommunisten aller Ostblockländer vereinigt Euch“ die Massen erfasste und zur materiellen Gewalt wurde.

Kein Zweifel. Kommunisten begingen schwere Verbrechen, Massenmorde, auch Fehler, die viele Opfer kosteten und schwere Niederlagen nach sich zogen. Menschen im Sozialismus litten unter vielen hausgemachten Problemen und falschen strategischen Konzepten. So haben die Sowjets, die sich in den Ostblockstaaten selbst als Befreier vom Faschismus feierten, zusammen mit deren Marionettenregierungen immer wieder bewiesen, dass sie sich als Besatzer und Besetzer der „Bruderstaaten“ fühlten. Ihr geradezu pathologischer Antifaschismus, in Verbindung mit ihrem nicht minder pathologischen Kampf gegen Reformsozialisten, stand ihnen genau so im Weg wie der vom Westen organisierte Antikommunismus. Der nämlich bezog seine Nahrung aus diesen Verbrechen, aus diesen Fehlern, indem er sich stets redlich bemühte, sie anzuprangern, sie propagandistisch auszunutzen, um die innergesellschaftlichen Konflikte in diesen Staaten zu verschärfen. Man half damit zwar den Antikommunisten im Ostblock, die diese Hilfe aber – undankbar – als viel zu unentschlossen kritisierten. Sie konnten allenfalls damit getröstet werden, dass der Westen einen Atomkrieg vermeiden wolle, ein überzeugendes Argument, das die Politik der friedlichen Koexistenz rechtfertigte.

Dass auch die Westalliierten die deutsche Teilung wichtig fanden, um die Hegemonie Deutschlands über Europa zu verhindern, hat erst Helmut Kohl ausgeplaudert. Er wollte ja dafür gelobt werden, dass er Franzosen und Briten davon überzeugen konnte, das wiedervereinigte Deutschland werde keine Vormachtstellung in Europa anstreben. Deshalb hätten sie der Wiedervereinigung zugestimmt. Wie Hitler wollten auch die Regierungen der kapitalistischen Demokratien die kommunistische Gefahr beseitigen, in ihren eigenen Ländern, aber auch dort, wo noch riesige Märkte für Rohstoffe sowie billige und willige Arbeitkräfte zu holen waren. Aber nach 1949 – wegen der Gefahr eines Atomkriegs – nicht militärisch, sondern politisch-ökonomisch. Das Rezept gegen die Mauer zwischen Ost und West hatten schon Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei 1848 beschrieben: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die so genannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, das heißt Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“

Man muss im Zusammenhang mit der Oktoberrevolution auch sehen, dass der nach dem Zweiten Weltkrieg weit größer gewordenen kommunistischen Gefahr der Einigungsprozess der westlichen Nationalstaaten bis hin zur Schaffung der heutigen Europäischen Union zu verdanken ist. Alle, die darüber rätseln, weshalb dieses Europa wieder zu zerfallen droht, sollten sich daran erinnern, dass es von Anfang an hauptsächlich ein Zweckbündnis zur Zurückdrängung, dann zur Eindämmung und schließlich zur Abwicklung der Ergebnisse der Oktoberrevolution gewesen ist. Das Ziel wurde erreicht. Die Europäische Union, soweit sie diesem Zweck diente, hat ihre Schuldigkeit getan. Jetzt hoffen die Zweck-Europäer, dass ihre neuen Feinde, die muslimischen Terroristen, und die neuen Konkurrenten auf dem Weltmarkt, vor allem Russland und China, den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bewirken. Denn andernfalls könnte das vom Konzernkapital nach wie vor gefürchtete „Europa von unten“ entstehen, an dem viele kluge Leute arbeiten, das aber nie zustande kommen wird, wenn es nicht gelingt, die Konzernherrschaft durch wirtschaftsdemokratische Kontrollsysteme zu brechen.

Die Staaten im Entwicklungsstadium der kapitalistischen Demokratien haben heute nur die Wahl, sich in Richtung kapitalistische Diktaturen zu bewegen. Das müssen keineswegs faschistische Diktaturen werden. Es genügen pseudodemokratische Despoten, die derzeit in mehreren NATO-Mitgliedstaten völlig frei gewählt werden, um zu verhindern, dass sich die kapitalistischen in Richtung sozialistische Demokratien weiterentwickeln. Wer diese Weiterentwicklung will, muss dazu beitragen, dass die Bevölkerungen ihren Nationalismus und Rassismus überwinden. Das aber hätte zur Voraussetzung, dass sie ihre Unabhängigkeit von den USA erklären und die Vereinigten Staaten von Europa gründen, die allein sicher stark genug wären, die Konzernmacht in den Griff zu bekommen, die jetzt noch mit Hilfe der Europäischen Union, der NATO und Pamphleten wie der Artikel von Arno Widmann in der Lage ist, die kapitalismuskritischen Strömungen in den europäischen Nationalstaaten, auch die in Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aktiven demokratischen Sozialisten mit antikommunistischen Horrorgemälden zu spalten und zu schwächen.

Darum geht es. Der Politikwissenschaftler Fritz Vilmar vermochte mitten im Kalten Krieg eindrucksvoll nachzuweisen, wie die westliche Rüstungspolitik den Ostblock auf den Pfad des Wett- und damit des sich Todrüstens getrieben hat. Widmann gibt nicht den geringsten Hinweis auf diese Variante der westlichen „Mobilisierungsdiktatur“. Lieber unterstellt er den Ostblockstaaten kommunistischen Stillstand. Als hätten die westlichen Kalten Krieger den Kommunisten auch nur eine Minute Zeit gelassen, sich auf die Verwirklichung ihrer sozialistischen Ziele zurückzubesinnen. Hier ist daran zu erinnern, dass der Kalte Krieg ja auch heiße Fronten hatte. Ich meine nicht die Interventionen der Sowjets, um die sozialen und nationalistischen Revolten in der DDR, in Ungarn und der Tschechoslowakei zu unterdrücken. Ich meine die opferreichen „Stellvertreterkriege“ in den Staaten der Dritten Welt. Was sagt Widmann dazu? Nichts. Tiefes Schweigen. –

Doch Halt! Er erinnert immerhin an Afghanistan. Aber leider nur, um zu suggerieren, die UdSSR sei an diesem Versuch, dort „ihre“ Freiheit zu verteidigen, zugrunde gegangen. Sie sei „dort von Glaubenskriegern weidwund geschossen worden“. Will uns Widmann damit erklären, die Menschheit hätte den Taliban zu verdanken, dass der Sowjetkommunismus besiegt wurde? Oder wollte er sagen: Vorsicht! Auch die westlichen Freiheitskämpfer könnten, weil sie nun ja selbst in einen heißen Krieg gegen die Taliban verwickelt sind, ihrem System einen Schaden zufügen, von dem sie sich nicht mehr erholen können? Wer erinnert sich noch? Es waren die USA, die das System „Taliban“ erfanden, die diese afghanischen Fundamentalisten gegen das gottlos, nämlich kommunistisch gewordene und von den Sowjets beschützte Kabul bewaffneten, sie an die Front schickten und die Entwicklung herbeiführten, die in die Kamikaze-Anschläge auf die Twin-Towers in New York und das Pentagon einmündeten. George W. Bush nutzte diese Gelegenheit, dem freien Westen einen bis heute andauernden Krieg zu verordnen. Herr Widmann: Hat Präsident Bush II. sich nach der von ihnen kritisierten „Logik des Leninismus“ für diesen Krieg entschieden? Einer Logik, die nach ihrer Meinung nur fragt: „Nützt es uns?“

Für alle, die es nicht längst wissen: Weil die kommunistischen Regierungen der Ostblockstaaten nicht nur sozialistische und kommunistische, sondern auch national-bürgerliche Befreiungsbewegungen gegen den demokratischen Imperialismus unterstützten, haben die freiheitlichen Demokratien der westlichen Wertegemeinschaft über Jahrzehnte blutrünstige rechte Diktaturen, antisozialistische Terroristen, Massenmörder mit Waffen, Geld und großzügiger geheimdienstlicher Hilfe an der Macht gehalten. Um die Freiheit der Bevölkerungen zu schützen? Nein, um die Investitionen der Kapitalanleger und die Ausbeutungsfreiheit der Konzerne in den ehemaligen Kolonien und Protektoraten zu sichern. Erst nachdem die kommunistische Gefahr, die nicht nur Friedensforscher Gerhard Kade für eine „Bedrohungslüge“ hielt, für die heute weltweit durchgesetzte Freiheit des Kapitals gebannt war; und erst als aus den kommunistischen Staaten ernst zu nehmende kapitalistische Konkurrenten geworden waren, die sich vor dem Ausverkauf an den reichen Westen zu schützen versuchen, indem sie kapitalistische Diktaturen errichteten, wurden die rechtsterroristischen Zuhälter der westlichen Demokratien in den Drittweltländern fallen gelassen.

So viel zu den Verbrechen der Kommunisten „gegen die Menschheit“ und gegen die „Menschlichkeit“. Hätte Widmann die Verbrechen der russischen, europäischen und amerikanischen Verursacher und Gegner der Oktoberrevolution mit den selben Maßstäben gemessen, die er für diesen Artikel aus seinem Hut gezaubert hat, hätte er einen ganz erheblichen Teil der Schuld auf die Konten der freiheitlichen Demokratien überweisen müssen. Doch die kommen in seinen Gräuelgeschichten gar nicht vor. Und, was in diesem Zusammenhang auf keinen Fall unerwähnt bleiben darf, es wird nicht einmal angedeutet, dass auch die englische, die amerikanische und die französische Revolution Bürgerkriege und Kriege ausgelöst und Millionen Tote und Verletzte gekostet haben. Es waren – darf man das nicht erwähnen? – kapitalistische Revolutionen. Aber auch sie haben nicht, was durch Widmanns Verschweigen dieser Tatsache durch den Kontext suggeriert wird, die versprochene Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für die „Nationalstaaten“ gebracht, die inzwischen, allerdings auch nur in wenigen Ländern der Welt, die Stufe erreicht haben, erreichen konnten, erreichen durften, die Arno Widmann sich als Ergebnis der Oktoberrevolution gewünscht haben mag.

Die bürgerlichen Freiheiten galten, was sogar in fast allen freiheitlichen Schulbüchern nachzulesen ist, zunächst nur für das Besitz- und Bildungsbürgertum. Gleiche Wahl- und lebensnotwendige Sozialrechte mussten, ja konnten von der damals noch antikapitalistischen Arbeiterbewegung nur scheibchenweise durchgesetzt werden, und immer nur in den Grenzen, die ihnen von mächtigen Kapitalstrategen, der kapitalistischen Presse und der politischen Avantgarde im kapitaldemokratisch kontrollierten Staat gezogen wurden. Schlimmer noch. Die kapitalismuskritische Demokratiebewegung wurde von den Kapital-Liberalen und Kapital-Christen – mit voller Unterstützung der kapitalistischen Wissenschaften und der bürgerlichen Tendenzpresse – so lange schamlos gemobbt, erpresst, verleumdet, kriminalisiert, bespitzelt und sogar beschuldigt, die Interessen des Kreml zu vertreten, bis sie ihre letzten hehren demokratisch-sozialistischen Ideale über Bord warfen, damit ihre Regierungsfähigkeit bewiesen und diese mit rigiden „Sparprogrammen“, der Demontage des Sozialstaats, den Kapitalmagnaten auch handfest bekräftigten. Dass sie dafür ihre Stammwähler auf dem Altar des Kapitals zur Ausplünderung freigaben und damit endgültig ihr Ziel einer sozial gerechten Welt aufgaben, lässt in den Villen der Superreichen und den Chefetagen ihrer Unternehmen die Hoffnung wachsen, dass nun auch die letzten Feinde ihrer Freiheit begreifen, wie sinnlos es ist, sich ihren Interessen in den Weg zu stellen.

Seit die Kommunisten in Ost und West, Nord und Süd, und mit diesen auch demokratische Sozialisten und die linken Sozialdemokraten – bis auf einige vom Aussterben bedrohte Reste – besiegt, zumindest domestiziert sind, und seit damit die kommunistische Gefahr gebannt ist, auch die chinesische, die gerade den Beweis erbringt, dass auch Kommunisten sehr gut Kapitalismus können, wird die permanente Konterrevolution verstärkt auf der Ebene der nun möglich erscheinenden Neuordnung der Welt im Sinne der kapitalistischen Demokratien, kurz, der Rückbau der Sozialstaaten, rigoros vorangetrieben. Die Notwendigkeit dieser Sparpolitik wird hauptsächlich mit der internationalen Konkurrenz und der Gefahr der Abwanderung von Investoren in Billiglohnländer begründet. Wo jedoch Deregulierung und Privatisierung zu langsam verlaufen, weil sich immer noch – wenn auch überwiegend linksbürgerlicher und zunehmend ökologisch begründeter – Widerstand regt, mausert sich das systematisch-kriminelle Unterlaufen der als Investitionshemmnisse denunzierten Sozial- und Umweltschutzgesetze zum globalen Geschäftsmodell. Was sich in dieser Hinsicht seit Ende des Kalten Krieges entwickelt hat, bezeichne ich als subversiv konterreformistischen, wo es angebracht erscheint, auch etwas drastischer, als konterrevolutionären Raub-, Steuerbetrugs- und Briefkastenkapitalismus.

Wenn Arno Widmann niemals etwas anderes als seine Frankfurter Rundschau gelesen hätte, wüsste er dennoch, dass die Verbrechen der sich mehrheitlich zum Christentum und zur westlichen Demokratie bekennenden Kapitalstrategen, die von der ganz alltäglichen organisierten Steuerkriminalität bis zur faschistischen Abschaffung liberaler Demokratien und ihrer Verfassungen reichen, Verbrechen zu verantworten haben, die immer systematisch praktiziert und staatlich – je nach Situation – geduldet oder aktiv unterstützt werden, um „Sozialismus“ mit allen legalen und illegalen Mittel zu bekämpfen, in welcher humanistischen, moralischen, sozialökologischen oder demokratischen „Verkleidung“ er auch auftreten mag. Dazu gehört auch Vieles, was die sozialistische Arbeiterbewegung schon erkämpft hatte und die zersplitterte und zerstrittene Linke zu erkämpfen sich vorgenommen hat. Nach Möglichkeit soll, legitimiert durch frei gewählte Regierungen, das Erreichte, soweit es nicht Kapitalinteressen förderlich ist, wieder rückgängig gemacht oder Geplantes zu verhindern versucht werden. Notfalls mit Gewalt.

Die „friedliche“ Variante der permanenten Konterrevolution wird allerdings bevorzugt. Sie besteht in der Schaffung von Steueroasen, in Abgasmanipulationen und in anderen milliardenschweren Wirtschaftsverbrechen der Konzerne. Da sie noch immer von Gerichten überwiegend – wie falsches Parken eines PKW – nur mit Bußgeldern geahndet und von reaktionären Politikberatern mit dem Vorwurf erklärt werden, die Gesetzgeber würden mit ihrer „Gefälligkeitsdemokratie“ die Unternehmen zu diesen Maßnahmen nötigen, ist in absehbarer Zeit kein friedlicher Fortschritt zu erwarten. Auch die wieder wachsende Bereitschaft zu revolutionärer Gewalt beeindruckt die Politiker nicht, solange sie nicht Stimmen an linke Parteien verlieren. Vor rechten Extremisten hat das Kapital nie Angst gehabt. Sie bieten sich als letzte Rettung an, stehen Gewehr bei Fuß bereit, auch die kapitalistischen Demokratien „auszuschalten“, wenn deren „Volksparteien“ es nicht schaffen, wegzukommen zum Beispiel vom „rot-grün verseuchten 68er Deutschland“, wenn sie von diesem „die Nase voll haben“.

Das besagt: Wenn bei freien Wahlen der Sieg einer antikapitalistischen Mehrheit auch nur droht, muss damit gerechnet werden, dass – wenigstens bis die Ausbeutungsordnung wieder hergestellt ist – auch einmal eine freiheitlich-demokratische Grundordnung außer Kraft gesetzt wird, zu ihrem eigenen Schutz, wie sich von selbst versteht. Wer Widmanns unwürdige „Würdigung“ der Oktoberrevolution liest, könnte versucht sein, dann doch lieber eine „konservative Revolution“ als eine sozialistische als Lösung unserer Weltprobleme vorzuziehen. Muss man es wirklich aussprechen? Die Verbrechen des Kapitals sind keine Erfindung der Kommunisten. Dennoch sind sie Verbrechen gegen die Menschheit und die Menschlichkeit.

Den Kommunisten darf, ja muss man vorwerfen, dass sie bisher jeden Versuch, einen friedlichen, gewaltfreien Weg zum Sozialismus zu gehen, es wenigsten zu versuchen, ausgeschlossen haben. Auch, dass ihre weit verstreute und zerstrittene „Nachhut“ diesen Weg nach wie vor ausschließt. Allerdings liefern die ebenso fundamentalistischen Antikommunisten ständig neue Beweise, dass sie genau so entschlossen auch einen friedlichen, auf freien Wahlen beruhenden Weg zu einem demokratischen Sozialismus, der die Freiheit der Konzerne in Frage stellt, mit staatskapitalistischer Gewalt verhindern würden. Der reformsozialistischen Seite, selbst den linken Sozialdemokraten, die sich inzwischen mit einem nationalen Sozialkapitalismus zufrieden geben, muss man deshalb vorwerfen, auch ihren Reformismus absolut gesetzt, jeder Revolutionsidee von vornherein den Krieg erklärt zu haben. Wollten Reformsozialisten sich vor dem ihnen drohenden endgültigen Untergang retten, müssten sie erst einmal ihren Revolutionsbegriff reformieren, also auch Konterrevolutionen – wie die der Wirtschaftskriminellen gegen den Sozialstaat – den „Krieg“ erklären. Er ist mit dem Strafrecht nicht zu führen, schon gar nicht zu gewinnen. Er muss als erstes Etappenziel mindestens eine kriminalpräventive Mitbestimmung erreichen.

Von einem Krieg gegen Wirtschaftsverbrechen ist aber weder bei revolutionären noch bei reformsozialistischen Linken weit und breit kaum etwas zu bemerken. Sie bekämpfen lieber den Kapitalismus. Er ist für sie – als System – kriminell. Als ob es nicht dieses System wäre, das in letzter Instanz darüber befindet, was und wer kriminell ist, weshalb und wie eine Straftat geahndet wird. Nirgends in der Welt, wo Wirtschaftsverbrechen durch Managerdummheit oder Whistleblower aufgedeckt werden, werden sie von antikapitalistischen Linken als Beweis der Richtigkeit ihres Denkfehlers missverstanden, der Kapitalismus sei als System kriminell. Der Kapitalismus definiert sich – als System – vor allem über Gesetze, auch über Strafgesetze. Was er für kriminell erklärt, ist antikapitalistisch, was er legalisiert, ist oder scheint seinen Demokraten ungefährlich oder nützlich. Wer von den Linken die Kämpfer gegen Wirtschaftskriminalität als Revisionistenpack verteufelt und als Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus sogar bekämpft, hat das Prinzip des „teile und herrsche“ der Kapitalstrategen noch immer nicht verstanden und wird als Linker am Ende sogar eher den Kampf gegen Linke als gegen den Kapitalismus führen. Arno Widmann, der sich – wenn ich nicht irre – ja auch als demokratischer Linker versteht, hat mit seiner anachronistischen Kritik an der längst zur Geschichte gehörenden Oktoberrevolution auch noch einmal eindrucksvoll vorgeführt, wohin sich abstrakter Intellektualismus verirren kann.

Noch deutlicher gesagt: Allzu viele, vor allem dogmatische Linke ignorieren, dass es die mächtigen Kapitalinteressen sind, die – vermittelt über frei gewählte Mehrheiten der Gesetzgebungsorgane – bestimmen, was und wen sie in welcher Weise kriminalisieren, auch was als Wirtschaftskriminalität, was als organisierte Kriminalität und Korruption zu gelten hat. Deshalb werden ja selbst schwerste Formen der Steuerkriminalität von Medien, Staatsanwälten und Gerichten oft sehr mild und verständnisvoll als „Sünde“ beurteilt. Arme, Obdachlose, Sozialleistungsempfänger und solche, die Armut und Elend auf die diversen kapitalistischen Ausbeutungspraktiken zurückführen und sich dagegen auflehnen, werden – trotz Demonstrationsrecht und Meinungsfreiheit – nicht selten schon bei geringsten Vergehen wie Verbrecher gejagt und verurteilt.

Ihrem parteipolitischen Absolutismus haben beide Hauptströmungen des organisierten Antikapitalismus, Reformer und Revolutionäre, ihre Niederlagen vor 1933 und – nach kurzer Fraternisierungs-Euphorie 1945 – zunächst ihren Abstieg, und nach der Wiedervereinigung ihren, man darf sagen Absturz in die Bedeutungslosigkeit zu verdanken. Dessen ungeachtet werfen sich die konkurrierenden Reste der historischen Arbeiterbewegung noch immer gegenseitig die „Verbrechen“ ihrer Urgroßväter und Väter vor, die Kommunisten den demokratischen Sozialisten ihren Reformismus, Opportunismus, Chauvinismus; die Sozialdemokraten den Kommunisten ihre grundsätzliche Gewaltbereitschaft, ihre Bereitschaft zum Gesetzesbruch, zum gewaltsamen Umsturz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Die Betonköpfe beider Seiten begreifen nicht, dass es höchste Zeit ist, sich gemeinsam gegen die Verbrechen des Kapitals, die systematische Wirtschaftsverbrechen zu verbünden, mit diesen zu befassen und gemeinsam undogmatische Strategien zu entwickeln, wie diese Verbrechen wieder auf ein politisch beherrschbares Maß minimiert werden können.

Dass nach dem Ende der Weltordnung des Kalten Krieges das kriminelle Kapital dafür sorgte, die allseits beklagte Hegemonie des legal wirtschaftenden Kapitals über die kapitalistischen Demokratien zu sichern, scheinen weder die antikommunistischen Sozialisten, zu denen vielleicht auch Arno Widmann gezählt werden darf, noch die trotz aller Niederlagen noch übrig gebliebenen Kommunisten begriffen zu haben. Weder Arno Widmann und die Mehrheit der linken Intellektuellen, noch die in Gewerkschaften und Parteien organisierten Linken fanden es bisher erforderlich, gegen Wirtschaftsverbrechen dezidiert und programmatisch ihre Stimme zu erheben oder gar die Chefetagen zu besetzen. Die Konzernverbrechen bedrohen längst nicht mehr nur Sozialstaaten, sondern die Gattung Mensch selbst. Weder in den Programmen der demokratischen Sozialisten noch in denen der nach wie vor von der großen sozialistischen Revolution schwärmenden Kommunisten finden sich auch nur ansatzweise überzeugende Gedanken darüber, wie sie sich dem Problem der kriminellen Ökonomie und den Herausforderungen des Untergrundkapitalismus zu stellen gedenken.

Die große Mehrheit der Linken duckt sich weiterhin weg, wenn das Thema Wirtschaftsverbrechen zur Sprache gebracht wird. Deren Wortführer wissen zwar, dass es ohne Gesetzesbrüche nie einen Sozialismus geben wird, weder einen demokratischen noch einen diktatorischen, denn dafür sorgen die Kapitalisten selbst, indem sie alles kriminalisieren, was sich ihnen ernsthaft in den Weg stellt. Dies gilt mindestens, so lange deren Einfluss auf Staat, Gesellschaft und Politik derart groß ist, dass sie frei gewählten Gesetzgebern Gesetze diktieren, das heißt ihre Interessen und Ausbeutungspraktiken legalisieren und damit demokratisch legitimieren lassen können. So lange bleibt auch denen, die über kein oder kein nennenswertes Kapital verfügen, und jenen, die in dem verharmlosenden Begriff „Klimawandel“ längst die Bedrohung der Gattung Mensch erkennen, allenfalls der gutbürgerliche moralische Appell an die gewählten Obrigkeiten, sich doch bitte selbst zu kontrollieren, Anstand zu wahren, doch christlich und sozial zu handeln.

Solche Appelle verhallen – wie es aussieht, folgenlos – in den Hohlräumen auch der klügsten Köpfe. Tun sie aber nicht. Sie sorgen dafür, dass selbst politische Parteien, die fordern, es müssten bestimmte, besonders krasse Bereicherungspraktiken verboten und bestraft werden, so gut wie nie ungestraft davonkommen. Denn für das Kapital sind die freiheitlichen Demokratien und die kapitalistische Presse die bewährten Bollwerke gegen jede Form des internationalistischen Sozialismus, im Grenzfall sogar gegen den kapitalfrommen und systemstabilisierenden Sozialliberalismus. Die Zahl der Demagogen, die sagen, wenn schon Sozialismus unbedingt sein muss, dann bitte Nationalsozialismus, ist in den kapitalistischen Demokratien nicht gering. Das müssten doch beide Seiten, Sozialdemokraten und Kommunisten, längst begriffen haben. Sie haben sich seit der Spaltung der Arbeiterbewegung, zu der die Oktoberrevolution nur den letzten Anstoß gab, immer wieder gegenseitig kriminalisiert, verfolgt und unterdrückt, man darf sagen, oft als Todfeinde behandelt. Dabei haben sie die Kriminalität, die Gewaltbereitschaft der Kapitalisten und Führungen der Kapitalparteien, auch die Verbrechen der Konzernwirtschaft oft so lange außer Acht gelassen, bis es zu spät war, ihre eigenen Parteien und politischen Errungenschaften vor deren Übergriffen zu retten.

Sie haben aber über Jahre hinweg nicht nur jenen Bereich der Wirtschaftskriminalität ignoriert, dessen Delikte konkurrierende Unternehmen im In- und Ausland gegeneinander gerichtet sind, die als Wettbewerbsdelikte zusammengefasst werden können. Das könnte man ja gerade noch verstehen. Sie haben auch die Verbrechen ignoriert, die sich gegen die durch Demokratisierungsprozesse allmählich sozialer werdenden Rechtsstaaten richteten, letztendlich gegen die Demokratiebewegungen, vor allem gegen sie – die gesamte soziale und sozialistische Linke – selbst richtete. Bis heute haben weder Reform- noch Revolutionssozialisten, ob sie parteipolitisch und gewerkschaftlich oder in kapitalismuskritischen Nichtregierungsorganisationen aktiv sind, ein ihre inneren Widersprüche als bedeutungslos ausweisendes Konzept, auch keine programmatische Alternative, um die Wähler von der Sinnlosigkeit bürgerlicher Moralappelle, Stellschraubenempfehlungen und folgenlosen Forderungen nach Strafrechtsverschärfung zu überzeugen. Die Kapitalfraktionen und ihre Parteien führen derzeit nicht nur in Deutschland wieder einmal exemplarisch vor, wie man selbst für unüberwindbar gehaltene Gegensätze ausklammert, um das Modell der kapitalistischen Demokratien nicht zu gefährden.

Es sind klar erkennbar vor allem die kriminalisierten Bereiche des Wirtschaftslebens, über die nicht nur Anhänger einer kommunistischen Revolution, sondern auch nur zu Streiks, Revolten oder Demonstrationen führenden Ideen, auf jeden Fall jeden Ansatz zu einem realdemokratischen Sozialismus im Keim ersticken. Demokratischer Sozialismus, das heißt heute in erster Linie, nicht nur die nationale Staats-, sondern auch die transnationale Konzerngewalt unter gesellschaftliche Kontrolle zu bringen. Das wäre ein Sozialismus, den die Mehrheiten aller Gesellschaften unterstützen, ja verteidigen könnten. Denn er könnte den gesetzwidrigen Gebrauch der Freiheit der Konzerngewaltigen einschränken. Und das würde bedeuten, dass die Freiheit derer, die über kein und kein nennenswertes Kapital verfügen, allein durch eine spürbare Verringerung der privaten und der öffentlichen Armut, der Beseitigung von materieller Not, von Hunger und heilbarer Krankheit, endlich so groß werden würde, wie sie bisher von den Politikern der kapitalistischen Demokratien nur versprochen wurde. Aber Wirtschaftsverbrechen unterlaufen den gesetzlichen Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zu einer sozialökologischen Politik, die dem Wohl der Allgemeinheit dient.

Von einem solchen, gegen die kriminelle Ökonomie gerichteten demokratischen Sozialismus, von dem alle Gesellschaften der Welt noch sehr weit entfernt sind, und, wie man am Rechtstrend der sozialkapitalistischen Demokratien ablesen kann, derzeit eher noch abrücken, wollen weder Reformsozialisten noch Kommunisten etwas wissen. Dies kann nur verstehen, wer realisiert, dass der Kampf der Kapitalstrategen sich nie in erster Linie gegen den revolutionären, doktrinären und totalitären Sozialismus gerichtet hat. Der wurde bisher immer, wie es jetzt – reichlich spät – Arno Widmann noch einmal versuchte, von den Intellektuellen bekämpft, während das Kapital selbst gegen Diktaturen nichts Nennenswertes vorzubringen hat, weil sie auch mit diesen ihre Geschäfte macht. Auch Konzerne sind Diktaturen. Es sind dezentrale Diktaturen des Kapitals. Sie sind mächtig genug, ihre Ausbeutungspraktiken legalisieren und ihre Gegner kriminalisieren zu lassen. Es muss also auch die Frage beantwortet werden, weshalb und wozu es überhaupt ein Wirtschaftsstrafrecht gibt? Die Antwort ist relativ einfach: Weil eine Konkurrenzkampfwirtschaft Spielregeln braucht wie alle Konkurrenzsportarten. Sie dienen dem Schutz der Wettbewerber. Denn die würden vor nichts zurückschrecken, wenn alles und jedes Mittel, das Erfolg verspricht, erlaubt wäre.

Da nun aber das Wirtschaftsleben nicht annähernd so überschaubar und kontrollierbar ist wie Fußballspiele, Tennisturniere und Boxkämpfe, die auf einem einsehbaren Kampfplatz und vor Zuschauern und Schiedsrichtern durchgeführt werden, sondern ungezählte, unkontrollierbare, alle formalen Grenzen mühelos überschreitende Aktionsfelder hat, zwangsläufig in nahezu alle Geschäfte sehr viele Menschen involviert sind, und weil nicht nur die Geschäftsleute selbst, sondern Mensch und Natur, ganze Gesellschaften, Demokratien, die jeweilige Kultur von schädlichen Geschäftspraktiken betroffen sein, gestört, ja zerstört werden können, hat es nie gereicht, auf Ethik und Moral, auf Selbstkontrolle und Selbstregulierungskräfte der Märkte zu setzen. Immer und in allen Wirtschafts- und Sozialordnungen hat es mit Strafen bedrohte Gebote und Verbote gegeben. Und immer wurden sie gebrochen, weil ja nicht jeder Gesetzesbruch Schäden verursacht. Es gibt – worauf übrigens schon Marx hingewiesen hat – ein produktives Moment in der grundsätzlich unproduktiven Arbeit der kriminellen Tat. Doch die gesellschaftlich nützlichen Gesetzesbrüche muss man heute suchen. Die schädlichen sind es, die uns alle bedrohen.

Die Verbrechen der Wirtschaft können, nachdem der Kapitalismus auf der ganzen Linie siegreich war, nur noch über eine kriminalpräventiv wirkende Ausweitung und Radikalisierung der Mitbestimmungsrechte so weit eingedämmt werden, dass Politik wieder eine Chance hat, die radikaldemokratische Sozial- und Umweltpolitik durchzusetzen, die heute zum Selbsterhalt der Gattung Mensch notwendig ist. Der Kampf um eine solche Mitbestimmung könnte auch ein erster Schritt sein, den weltweiten Rückfall der hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften auf das Niveau des russischen und chinesischen Manchesterkapitalismus zu verhindern. Denn Wirtschaftsverbrechen sind derzeit die schärfsten Waffen gegen jede die Grenzen der Toleranz und Intransparenz der „Beutejäger“ überschreitenden staatlichen Sozial-, Umwelt- und Friedenspolitik.

Es geht also schon lange nicht mehr darum, auch das sollte ein kluger Kopf wie Arno Widmann bedenken, die Oktoberrevolution als Verbrechen gegen Menschen und Menschlichkeit zu denunzieren. Diese Methode, Sozialismus zu verhindern, hat abgewirtschaftet. Besser ist es zu betonen, dass sie den Frieden zwischen Deutschland und Russland brachte, dass ihr der Sieg über den Faschismus zu verdanken ist. Wenn schon über die Verbrechen der Kommunisten gesprochen wird, kann man Widmanns Kritik nur glaubhaft machen, wenn zugleich und zumindest die verbrecherische Rolle derer erwähnt wird, die die Kapitalisten und die Kämpfer für die Entfesselung des Kapitalismus vor, während und nach dieser Revolution, bei ihrem Zustandekommen, bei den Schwierigkeiten der Realisierung ihrer Ziele, schließlich auch beim Untergang der UdSSR gespielt haben. Widmann hätte also zumindest andeuten müssen, dass es nicht nur hausgemachte Verbrechen der Revolutionäre gab. Nur ein einziges Mal fällt in seinem Pamphlet das Wort Kapitalismus. Er behauptet dort, bis heute würde diese Revolution als „gescheiterte Hoffnung“, als verzweifelter Versuch „verkauft“, „dem Kapitalismus etwas entgegenzuhalten“. Und dann schreibt er den unbegreiflichen Satz, den ich allenfalls einem Donald Trump zugetraut hätte: „Wer das behauptet, der zeige einen einzigen Augenblick, in dem die Sowjetunion so gehandelt hat.“

Da fragt sich sogar der kleine Prinz vom ganz anderen Stern, weshalb die Kapitalisten und deren politische Avantgarde so viel Geld, Zeit und Papier verschwendet, ja Blut in Strömen vergossen haben, die UdSSR endlich auf kapitalistischen Kurs zu bringen. Und warum sie nun versuchen, nicht nur die ehemaligen Ostblockstaaten, die inzwischen kapitalistisch sind und großenteils schon der EU und der NATO angehören, sondern auch das verbliebene, ebenfalls kapitalistische Russland und China so zu „demokratisieren“, dass auch für diese Staaten gilt, was Horst Seehofer in einer Talkshow offensichtlich als Normalzustand über das wiedervereinigte Deutschland verriet. Er sagte: „Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.“ Besser und kürzer lässt sich die heutige Entwicklungsstufe der kapitalistischen Demokratien nicht in Worte fassen. Etwas aktueller ist der Aufmacher von DIE ZEIT (vom 9, November 2017), in dem gefragt wird: „Wer hat die Macht – der Staat oder die Superreichen?“ Und darunter: „Milliardäre und Konzerne gestalten sich die Welt, wie es ihnen gefällt.“

Vor diesem Hintergrund wäre es ein hervorragender Beitrag zur Aufklärung gewesen, wenn Arno Widmann die Oktoberrevolution nicht postfaktisch als „Utopie vom Massenmord“ versimpelt, sondern als Beweis für die wilde Entschlossenheit des Kapitals und der kapitalistischen Demokratien angeführt hätte, ihr über Leichen gehendes Ausbeutungssystem mit allen, sogar den Mitteln des Holocaust zu verteidigen. Dass wäre eine großartige Leistung gewesen. Denn bis heute produzieren nicht gewählte, sondern „auserwählte“ Entscheider, die nichts als ihre Eigentumsfreiheit verteidigen, wobei sie den Angriff als die bessere Verteidigung bevorzugen, Massen völlig überflüssiger Waren produzieren, mit deren Vermarktung sie für einige Gesellschaften Wohlstand, aber für die meisten immer größere Not, Elend, Hungersnöte und Migrantenströme verursachen. Sie waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Hauptursache für das weltweite Erstarken der sozialistischen Arbeiterbewegung. Sie waren im 20. Jahrhundert die Hauptursachen zweier Weltkriege, der Oktoberevolution, des Siegeszuges kommunistischer Bewegungen und des gegen diesen gerichteten Kalten Krieges. Nun sind sie die Ursache des total irrationalen Widerstandes der muslimischen Fundamentalisten, die die heraufziehenden Reformationen und Revolutionen in der Welt des Islam mit ihrem Terror und ihrer Gewalt ungewollt beschleunigen.

Zum Schluss der Versuch einer Erklärung zur Ehrenrettung Arno Widmanns. Am 18.Februar 1987 fand eine Revolution statt, die auf sein Konto geht. Er veröffentlichte damals (als Mitbegründer der TAZ) in seiner Zeitung ein Interview des ostdeutschen Schriftsteller Stephan Heim mit dem DDR-Biologen Segal. In diesem Interview wurde – wie man heute weiß – eine vom KGB in die Welt gesetzte Verschwörungstheorie in Umlauf gebracht, und der noch unerfahrene Widmann war es, der in diese Falle getappt ist. Das ist heute fast vergessen. Vergessen auch, dass Widmann hier eine Schlüsselrolle spielte. Die vom KGB gestrickte Fake News besagte, die USA hätten – sozusagen als Geheimwaffe gegen Schwule und Schwarze im eigenen Land und gegen Schwarzafrika – in ihren Giftküchen das Aids-Virus entwickelt.

Liest man Widmanns „Würdigung“ der Oktoberrevolution mit diesem Hintergrundwissen, kommt man unweigerlich auf den Gedanken, hier habe der Journalist, der vor genau 30 Jahren auf die Kalte-Kriegs-Propaganda des KGB (wie übrigens auch der schändlich missbrauchte Stefan Heym) hereinfiel, nichts weiter getan, als noch einmal kraftvoll zurückgeschlagen. Vielleicht war es ja Putin, der in diesen Jahren in der DDR seine Fähigkeiten als KGB-Mann beweisen musste, der Stephan Heym und damit auch Arno Widmann in diese Falle lockte. Rache ist süß. Dieser Verdacht wächst, wenn man nach der Urheberin seiner Darstellung des Sturms auf das Winterpalais forscht. Nicht einmal Wikipedia Deutschland, das „allwissende“ Internetlexikon, kennt diese sozialdemokratische Feministin namens Ekaterina Dmitrievna Kuskova. Widmann hat sie in seinem Pamphlet fairerweise erwähnt. Hätte er zur Würdigung und Kritik der Oktoberrevolution einfach nur ihre Lebensgeschichte, die viele Gründe zur Rache an Kommunisten liefert, nacherzählt, wäre das zwar auch nur eine sehr subjektive, ebenfalls antikommunistische, aber doch ehrliche und vielleicht sogar wissenschaftlich objektivierbare Erinnerung einer demokratischen Sozialistin an die Oktoberrevolution und ihre Folgen gewesen.


Siehe hierzu auch meinen Leserbrief an die FR:

Vorbemerkung:

In der Wochenendausgabe der FR vom 4./5.11.2017 veröffentlichte der Journalist Arno Widmann zum 100. Geburtstag der Oktoberrevolution ein bösartiges Pamphlet. Er richtete es als Warnung an diejenigen, die immer noch glauben, die Sowjetunion als „gescheiterte Hoffnung“ betrachten zu müssen. Er betrachtet sie, so die Überschrift seines Artikels, als „Die Utopie vom Massenmord“. Als Beweis bot er eine „Analyse“, die mich veranlasste, zuerst einen Leserbrief an die Frankfurter Rundschau, dann eine – leider viel zu lang geratene – Kolumne für das Rubikon-Magazin zu schreiben, die den Argumenten des Leserbriefs viel weitergehende hinzufügt. Die Kolumne bezieht sich – wie mein Leserbrief – direkt auf Widmanns Essay.

Mein Leserbrief wurde inzwischen – gekürzt – in der FR abgedruckt. Vom harten Kern dieser Kritik an Widmanns Revolutionsbeschreibung blieb wenig übrig. Ich klage aber nicht darüber, dass Leserbriefe gar nicht oder nur gekürzt abgedruckt werden. Wenn ich den Leserbrief hier ungekürzt und unabhängig von der verfassten Kolumne zu Widmanns Artikel veröffentliche, dann, um kritischen Mediennutzern ein konkretes Beispiel zu liefern, wie durch die – bewundernswert gekonnte – Kürzung eines Leserbriefs der eigentliche Anlass der Kritik völlig ausgeblendet werden kann. Weggekürzt wurde, was in Kursivschrift wiedergegeben wird.

Und noch etwas: Ein wahrscheinlich ebenfalls gekürzter Leserbrief von Rundschau-Leser Markus Erich-Delattre aus Hamburg gegen mich und die anderen Kritiker des Artikels von Widmann, der eine Literaturliste über die Mordmaschine des Stalinismus anbietet, in der bewiesen wird, dass Widmann die Wahrheit sagte und seine Kritiker – auch noch mit einem Brecht-Zitat – zu Verbrechern erklärt, weil sie die Wahrheit kennen und sie – angeblich – eine Lüge nennen. Dass eine derart falsche und beleidigende Erwiderung als Leserbrief abgedruckt wird, bestätigt mir noch einmal, wie wenig Sinn es macht, solche Auseinandersetzungen über Leserbriefredaktionen zu führen. Das Brechtzitat, wer die Wahrheit kennt und sie eine Lüge nennt, sei ein Verbrecher, hätte ich auch auf Widmann anwenden können, der sicher die Wahrheit über bürgerliche und sozialistische Revolutionen kennt, sie aber in seinem Artikel wissentlich verschwiegen hat. Ist das Verschweigen einer Wahrheit schon eine Lüge? Und ist jeder Lügner ein Verbrecher? Ich hätte als Leserbriefredakteur dieses gegen die Kritiker Widmanns gerichtete Brechtzitat nicht abgedruckt, weil weder Arno Widmann noch seine Kritiker die ihnen bekannte Wahrheit eine Lüge nannten. Alle Kritiker beanstandeten nichts weiter als die extreme Einseitigkeit und fragwürdige Verkürzung seiner Geschichten über die Oktoberrevolution. Wenn nun die FR-Redaktion diesen sicher ebenfalls gekürzten Leserbrief zugunsten von Herrn Widmann veröffentlicht und zulässt, dass die Kritiker Widmanns als Verbrecher bezeichnet werden, muss sich natürlich die FR-Redaktion fragen lassen, ob sie nun schon die Verteidigungslinie ihrer inneren und äußeren Pressefreiheit in die Niederungen der „sozialen Netzwerke“ verlegt hat, obgleich diese längst zu asozialen Hetzwerken verkommen sind.

Meine erste Kolumne für Rubikon ist nicht nur eine Kritik an Arno Widmanns unwürdiger „Würdigung“ der Oktoberrevolution. Sie ist auch eine Kritik der kapitalistischen Konterrevolution.

Hier mein Leserbrief an die FR (das kursiv Gedruckte wurde von der Redaktion weggelassen):

Kann mir irgendjemand, der ich länger Rundschau-Leser bin als Arno Widmann Journalist, erklären, was der Artikel über die Oktoberrevolution in dieser Zeitung sollte? Hatte denn niemand in der Redaktion den Mut, diesem nach seiner welthistorischen Blamage mit dem Stefan-Heym-Interview in der TAZ über das AIDS-Virus als geläutert erscheinenden, in der Regel klug und differenziert schreibenden Autor vor sich selbst zu schützen? Wer so wie er eine vom KGB lancierte Verschwörungstheorie verbreitete, mag ja einen verständlichen Grund haben, sich an einem Ex-KGB-Mann wie Putin zu rächen, aber was er sich in Sachen Oktoberrevolution geleistet hat, ist keine Rache, das ist Leichenfledderei. Die über die Oktoberrevolution und die Bolschewiken zusammengeschusterten Geschichten über Grausamkeiten und Ungereimtheiten der Bolschewiken, die tatsächlich nichts mit einem „Aufbruch in eine freiere Welt“ zu tun hatten, wohl aber Vieles mit weitreichenden, weltweit wirksamen Erfolgen, die Widmann einfach unterschlagen hat. Es wären,
U(u)m das, was Herr Widmann in diesem Beitrag auch an Richtigem geschrieben hat, glaubhaft zu machen, wenigstens einige Hinweise auf die Dialektik von Revolutionen notwendig gewesen. Einmal, dass auch die großen bürgerlichen, sprich kapitalistischen Revolutionen in England, in den USA, in Frankreich, die uns von den liberalen und christlichen Parteien als den Nutznießern der westlichen Ausbeutergemeinschaft immer wieder in Erinnerung gerufen werden, keine friedlichen Kindergeburtstage waren, sondern unendliches Leid, Not, Hunger und Tod verursachten, und dass die bürgerlichen Revolutionäre auch nicht hielten, was sie versprachen.,
ihre Nachfahren bis heute nicht einzulösen bereit sind, was sie ihren Wählern versprechen.
Es war, was Arno Widmann weiß wie jeder andere langjährige Rundschauleser, die sozialistische Arbeiterbewegung, die in opferreichen Kämpfen der anfänglichen offenen Diktatur des Kapitals allmählich demokratisch legitimierte sozialstaatliche Grenzen zu setzen vermochte. Und Widmann weiß auch, dass es Stalin und seine sowjetischen Armeen waren, die – übrigens im Bündnis mit den demokratischen und antikommunistischen USA-Kapitalisten, deren kapitalistische Freiheit viele Deutsche ebenso wenig wollten wie Lenins Kommunismus und deshalb für Faschismus und Krieg waren – den Hitlerfaschismus niederrangen. Dass die Kommunisten nach diesem Trauma alles taten, eine solche faschistische Befreiung vom Kommunismus nicht noch einmal erleben zu müssen, wer weiß das eigentlich nicht?
Der Kalte Krieg ist nun – zumindest offiziell - schon eine Weile beendet. Herr Widmann, Sie sollten die Oktoberrevolution und den sowjetischen Parteikommunismus, wie übrigens auch die maoistische, als Folge der natürlichen Ungleichzeitigkeit und Ungleichheit gesellschaftlicher Entwicklung geschuldete Form der „ursprünglichen“ Kapitalbildung deuten. Versuchen Sie es, dann erkennen Sie vielleicht, dass die großen sozialistischen Revolutionen, weltgeschichtlich betrachtet, nichts als qualitative Sprünge auf dem Weg der widerstrebenden Teile der Menschheit zum Weltkapitalismus waren. Der aber ist nicht nur nach Marx, sondern sogar nach dem frühen Lenin die Voraussetzung einer sozialistischen Weltrevolution. Ob Sie kommen wird oder nicht, weiß niemand.
Zwischen den großen Revolutionen, auf deren Ausbrechen und Verlauf wir alle keinen Einfluss haben, quälen sich Leute wie ich damit herum, objektiv machbare soziale Reformen durchzusetzen gegen die globalen, immer krimineller werdenden Kapitalstrategen in den demokratiefreien Zonen der Konzerne. Sie verhindern heute den sozialen und demokratischen Fortschritt mit Hilfe einer kriminellen Global-Ökonomie, die ich als subversive Konterrevolution interpretiere. Das legalisierte Kapital entwickelte aufgrund des berechtigten Widerstands gegen den Neoliberalismus einem tödlichen Untergrundkapitalismus, der nicht nur den leninistischen Kommunismus, sondern auch den des demokratischen Sozialismus und den linken Sozialliberalismus der Sozialdemokraten längst kalt gestellt hat. Es ist uns alt gewordenen „Idealisten“ nicht einmal gelungen, die ohnedies schon kräftig Ausgebeuteten vor kapitalhörigen „Sozialreformern“ wie Gerhard Schröder, vor Pseudo-Revolutionären wie es die Baader-Meinhof Sozialisten waren, aber auch nicht vor den sich heute als Linke verstehenden Umsatzbeschleuniger des Autohandels zu schützen.
Ich hoffe, Herr Widmann, dass Sie und die Rundschau-Redaktion nur einen besonders schlechten Tag hatten.
Hans See, Maintal

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.